Eine richtige Geschichte aus der Arbeitswelt. Und was für eine! Wir begegnen Menschen an einem einzigen Tag, die von einer Überraschung in die nächste fallen. Am Abend ist dann so ziemlich alles anders als es am Morgen war. Freude und Verärgerung, Staunen und Kopfschütteln inklusive. Das liegt an dem Chef, der mit seiner Güte und Großmut alle geschriebenen - und ungeschriebenen - Gesetze über den Haufen wirft. Der Clou am Schluss: Wir kommen von der Geschichte nicht mehr los. "Bist du neidisch, weil ich zu anderen gütig bin?"
Arbeitsmarkt damals
Die Geschichte geht so:
Die erste Stunde. Sonnenaufgang. Auf dem Marktplatz warten Menschen. Sie suchen Arbeit. Jeden Tag stehen sie hier. "Arbeitsmarkt" eben. Der Weinbergbesitzer kommt. Er bringt Arbeit mit. Heute hat er viel davon zu vergeben. Es ist nicht jeden Tag so. Was zu machen ist? Keine Ahnung. Nur: Arbeit. Arbeit ist Leben. Wählerisch ist hier keiner. Bescheiden geht es nur um das tägliche Brot. Um den Denar, von dem die Geschichte erzählt. Ein Denar - das ist das Existenzminimun. Große Sprünge sind da nicht zu machen, sagen die Leute. Und jeder weiß, was gemeint ist. Also, heute in den Weinberg. Der Tag verspricht, schön zu werden. Zwölf Stunden Arbeit. Und wenn die Sonne untergeht, wird es ein guter Tag gewesen sein. Nicht nur für die Arbeiter, sondern auch für die Familie. Sie bangt immer mit. Ein Denar!
Drei Stunden später, sechs Stunden später, neun Stunden später: Die Geschichte liebt die Steigerung. Da stehen immer noch Menschen auf dem Arbeitsmarkt. Seit wann sie hier stehen? Kein Wort davon. Sind sie womöglich zu spät gekommen? Haben sie schon etwas anderes gemacht? Waren sie vielleicht von Anfang an zu viel? Ich weiß ja, warum ich so frage. Gründe suche ich, auch Gründe, abzuwehren. Wenn sie's selber schuld sind, erst jetzt zu erscheinen? Sich regen, bringt Segen. Wer arbeiten will, findet auch welche. . . Die Geschichte erzählt nur, dass der Weinbergbesitzer, heute wohl der bedeutendste Arbeitgeber am Ort, geben will, was recht ist. Klar. Stunde mal Stundenlohn. Schreibt euch eure Zeiten auf, sage ich. Keiner von euch hat auch nur eine Stunde zu verschenken.
Und dann, eine Stunde vor Feierabend: "Was steht ihr hier den ganzen Tag herum, ohne etwas zu tun?" Die Männer antworteten ihm: "Uns hat niemand Arbeit gegeben." Da sagte der Herr: "Kommt, geht auch ihr in meinen Weinberg." Ich werde stutzig. Noch eine Stunde vor Schluss? Macht ein Arbeitgeber so etwas? Ich habe ja schon viel erlebt. Das nicht. Die Wegezeit abziehen, das Umziehen abziehen - was bleibt dann noch? Aber die Leute haben lange ausgeharrt. Fast den ganzen Tag. Die Enttäuschung: "Uns hat niemand Arbeit gegeben". Ein verlorener Tag. Kein Denar. Die Vernunft sagt: Geh nach Hause. Der Weinbergbesitzer: Komm in meinen Weinberg.
Arbeitsmarkt heute
In dieser Geschichte, die Jesus erzählt, treffen wir auf unsere Begriffe und Zeitungsmeldungen, die großen Worte und den Brustton der Überzeugungen. Von Arbeitsmarkt ist bei uns fast jeden Tag die Rede, die Arbeitslosenzahlen werden wenigstens einmal im Monat verkündet, und Schuldzuweisungen sind zu einem Ritual geworden. Desaster müssen erklärt werden. Arbeitsplatzbesitzer werden Arbeitslosen gegenübergestellt, Interessenvertreter gegeneinander ausgespielt - und die Gesichter von Menschen verschwinden in Statistiken, Theorien und Stammtischgeschwätz.
Das Gleichnis kommt mit wenigen Worten aus. Wir sehen Menschen auf dem Arbeitsmarkt. Wir hören sie erzählen. Sie erzählen von dem tagtäglichen Warten - und von dem Glück, genommen zu werden. Sie erzählen von der Angst, am Abend immer noch dazustehen und leer nach Hause zu gehen. Sie erzählen von der Hoffnung, dass, gerechnet über viele Tage, Monate und Jahre, etwas übrig bleibt. Es ist eine sehr menschliche Geschichte, die einlädt, die vielen kleinen und großen Geschichten aus dem Arbeitsleben zu erzählen: die fünfzigste Absage, die betriebsbedingte Kündigung, der ständige Stress mit der kontinuierlichen Entwicklung, die Lücken im Lebenslauf - und die Anforderung an sich selbst, immer der Erste zu sein, am Ball bleiben zu müssen, sich nicht abhängen lassen zu können. In den Bildern des Gleichnisses: Du musst von Anfang an dabei sein. "Präsenz" heißt ein modernes Wort dafür, "Durchsetzungsvermögen" ein anderes.
Das Gleichnis kommt nicht nur mit wenigen Worten aus: es ist viel ehrlicher und befreiender als unsere Analysen und Kommentare. Diese Geschichte ist ein Meisterwerk. Dass sie mehr ist - und auch mehr will - erschließt sich in der Gestalt des Weinbergbesitzers, der in einfachen Strichen gezeichnet wird: Er kommt morgens in aller Frühe, er kommt mehrmals am Tag - und als der Tag eigentlich schon beschlossen werden kann, kommt er noch mal und holt Menschen ab, die aufgegeben haben. Er kommt! Was ein Weinbergbesitzer sonst noch macht, spielt in dieser Geschichte nicht einmal eine Nebenrolle.
Zahltag
Mit einer Einschränkung: Am Abend wird abgerechnet. Der Verwalter, nur hier erwähnt, soll die Löhne auszahlen. Von oben abgesegnet: Die zuletzt Eingestellten sollen zuerst drankommen - und auch einen Denar erhalten. Zwei Überraschungen auf einmal. Für diese Pointe fehlen mit die Worte. Jeder bekommt einen Denar. Den Ertrag eines vollen Arbeitstages! Ich sehe verwundert zu, wie der Verwalter zu den Leuten geht und dann - zum Schluss! - auch zu denen kommt, die von der ersten Stunde an dabei waren, im Gleichnis "Erste" genannt.
Ich versuche, die Stimmen aufzufangen und in den Gesichtern zu lesen. Der Widerspruch liegt förmlich in der Luft. Die Menschen reden von der Last des Tages, von harter Arbeit und auch von dem Ausgebranntsein. Kenne ich doch, denke ich. Misstrauisches Beäugen, böse Blicke. Kann überhaupt wahr sein, was zu sehen ist? So kann die Welt doch nicht stimmen! Ach, was lob' ich mir da unsere moderne Vertraulichkeit!
Die Geschichte erzählt nüchtern, auf jedes Wort bedacht, von dem, was der Weinbergbesitzer zu sagen hat. Geradezu sich steigernd: Wir haben doch die Vergütung vertraglich geregelt - euch geschieht kein Unrecht. Und dann: was die anderen bekommen, muss ich nicht mit euch ausmachen. Schließlich, auf den Punkt gebracht: Oder blickst du deshalb so böse, weil ich großzügig bin?" Ich gebe allerdings zu: Was soll ein Mensch auf diese Frage antworten? Jede Argumentation ist hier an ihr Ende gekommen. Es gibt nichts mehr zu diskutieren. "Also nimm dein Geld und geh!".
Güte kann nicht objektiv sein
Die Geschichte, liebevoll mit Details versehen, alles Unwichtige weggelassen, lässt am Schluss einen Blick auf die Augen zu. Eine ungewohnte Perspektive, aber mit Zukunftsaussichten. Das Gleichnis lässt die Augen auf den Weinbergbesitzer ruhen, der seine Güte rechtfertigt und den kritischen Rückfragen begegnet.
Vor dem Gleichnis steht: Das Reich der Himmel. Doppelpunkt. Jesus erzählt die Geschichte Gottes, der in seiner - von Menschen nicht mehr einholbaren - Güte immer wieder kommt, Menschen abholt und ihnen das ganze Leben schenkt. Der eine Denar ist nicht nur das Existenzminimum, er steht für das geschenkte Leben, für Zukunft. Am Abend bringen Menschen den vollen Tag ein, unabhängig von allem, was gezählt und gemessen wurde. Das ist die Verheißung. Die Unterschiede zwischen Ersten und Letzten, denen da oben und denen da unten, von vorne und hinten, verlieren ihre Kraft und Bedeutung, sie trennen auch nicht mehr. Was dabei zu gewinnen ist, ist der gütige Blick.
Schauen wir einmal zurück:
"Erster" schreien Kinder. Aus dem Spiel kann schon bei ihnen Ernst werden. Ich weiß: Sie müssen um den ersten Platz kämpfen. Vieles hängt davon ab: vom Selbstwertgefühl bis zur Stellung im Leben. "Ich war zuerst hier", sagen Menschen, die ihren Platz verteidigen. Das hört sich nach Kindergarten an, drückt aber Befürchtungen aus, zurückgesetzt zu werden. Im Sport ist "Erster" das Traumziel. Die Hymne wird gespielt. Der Letzte wird nicht gefeiert. Der Letzte macht das Licht aus.
Für Leistungen, die Tag für Tag mit Mühe und Arbeit erbracht werden, wünschen wir uns, anerkannt zu werden. Wir wollen nichts geschenkt haben. Aber es soll alles stimmen. Zur Ordnung unserer Welt gehört, dass einige vorne sind, andere hinten bleiben. In einer alten Übersetzung ist von dem "scheelen Blick" die Rede, der sich bei dieser Geschichte von dem unglaublichen Weinbergbesitzer einstellt.
Jesus erzählt die Geschichte Gottes, der immer wieder kommt, Menschen abholt und ihnen das ganze Leben schenkt. Wer das nicht als Vertröstung versteht, vertagt oder kleinmacht, wird mit der Geschichte, die den Originalton Jesu aufbewahrt, die Augen neu entdecken. Die eigenen besonders, die der anderen aber auch. Die Güte kann nicht objektiv sein. Es ist tatsächlich so und wörtlich zu nehmen. "Oder blickst du deshalb so böse, weil ich großzügig bin?" Am Ende ist das Evangelium offen: für Menschen, die nicht mehr "Erste" sein müssen und als "Letzte" nicht alleingelassen werden.
Und der Friede Gottes,
der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Martin Stewen (2014)
Antonia Keßelring (2002)
Judith Putz (1999)