Die Weihnachtsgeschichte beginnt mit großen Namen: mit Kaiser Augustus und seinem Statthalter Quirinius. Um dann, fast hätte ich gesagt: in einer Nacht- und Nebelaktion, alle Blicke auf ein trostloses Nest und seine wenig charmante Umgebung zu lenken. Denn Bethlehem ist am AdeWe, der werdenden Mutter vermag man nur einen Stall anzubieten und was sich so ringsum tut, ist mit Schafgeblöke schon fast lyrisch beschrieben. Unter uns: eine Niete unter den Dörfern.
Aber Gott hat wohl einen Narren an diesem Nest gefressen. Davon hat die Welt weder vorher noch nachher gehört: dass sich der Himmel öffnet, der himmlische Hofstaat seinen angestammten Platz verlässt und tatsächlich Hirten die größte Nachricht aller Zeiten zugejubelt wird: Euch ist heute der Heiland geboren. Der Retter. Der Erlöser. Was Gott wohl nachts auf dem Feld sucht? Es muss eine große Liebe sein, die sich hier kundtut. Eine Liebeserklärung an einfache Menschen, die nicht nur nicht viel haben, denen auch ein schlechter Ruf anhaftet. Den sie nicht abwaschen können wie Mief von Schaf und Feld. Dass Gott sich mit denen gemein macht! Von dieser Nacht wird man noch lange reden!
Ein Lied für den Morgen
Nein, von dieser Nacht wird man nicht nur lange reden - man wird singen, Lieder über Lieder. Ob die Hirten mit ihren rauen Kehlen überhaupt ein Wort herausbrachten? Den Mut hatten, den Mund aufzumachen? Dann müssen wir es übernehmen!
Paul Gerhardt, dessen 400. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern, fand 1653 die passenden Worte. Und schöne obendrein:
Wir singen dir, Immanuel,
du Lebensfürst und Gnadenquell,
du Himmelsblum und Morgenstern,
du Jungfraunsohn, Herr aller Herrn.
Wir singen dir in deinem Heer
aus aller Kraft Lob, Preis und Ehr,
daß du, o lang gewünschter Gast,
dich nunmehr eingestellet hast.
Von Anfang, da die Welt gemacht,
hat so manch Herz nach dir gewacht,
dich hat gehofft so lange Jahr
der Väter und Propheten Schar:
»Ach, daß der Herr aus Zion käm
und unsre Bande von uns nähm!
Ach, daß die Hilfe bräch herein,
so würde Jakob fröhlich sein!«
Wer sich wohl in dem "wir" versteckt? Den Hirten hat Paul Gerhardt Worte in den Mund gelegt, die wir singen sollen. Das Lied von dem lang und heiß ersehnten Gast. Er bekommt die schönsten Namen, Liebkosungen allesamt: Lebensfürst, Gnadenquell, Himmelsblum und Morgenstern - und dann: Jungfraunsohn, Herr aller Herrn. Wunder, die kaum in Worte passen. So singt nur eine - die Liebe!
Ein weiter Blick, fürwahr! "Von Anfang, da die Welt gemacht, hat so manch Herz nach dir gewacht …" Paul Gerhardt beschreibt die Sehnsucht, das Warten und Zagen, die stille und bescheidene, die laute und bestürmende Erwartung. Trotz der wunderschönen Namen: der, der kommt, ist nur: Gast. Mit allem hätte ich jetzt gerechnet, nur damit nicht. Dass es dann auch noch ins Schwarze trifft, erscheint selbst wie ein himmlisches Zeichen. Denn ein Gast wird eingeladen, ein Gast wird erbeten, ein Gast wird umworben - ein Gast kommt, ein Gast bleibt - Gast. Herren sind keine Gäste, Götter auch nicht, der Tod schon gar nicht. In dieser Nacht wird nicht nur eine Liebeserklärung gesungen: in dieser Nacht outet sich Gott als - Gast. Auf die Spitze getrieben: es gibt keinen Raum in der Herberge! Kommen Gäste in die Futterkrippe?
Der Kleine macht alles groß
Paul Gerhardt weiß die richtigen Worte zu finden. Kein Bedauern, kein Räsonieren, nein, die Geschichte kann gar nicht anders (aus)gehen. Diese Geschichte braucht den Stallgeruch, die Nacht, das Feld - weil doch der Himmel einen neuen Ort findet. Umzieht, sozusagen. Paul Gerhardt dichtet:
Nun du bist hier, da liegest du,
hältst in dem Kripplein deine Ruh,
bist klein und machst doch alles groß,
bekleidst die Welt und kommst doch bloß.
Machen wir uns erst gar nicht die Mühe, etwas verstehen zu wollen, was nur in der Liebe aufgeht. In wenigen Worten - Liebe bedarf nie vieler Worte - findet das ganze Evangelium Platz: Der Kleine macht alles groß - und obwohl selbst "bloß", kleidet er die Welt neu ein. Um das Bild auszukosten: Die Welt wird nicht mehr nackt sein - und kein Mensch mehr klein gemacht werden.
Es sind Bilder einer großen Hoffnung. Denn es ist die Barmherzigkeit, die die Welt neu kleidet und Menschen groß macht. Wer auf Status, Vermögen und Prestige setzt, wird sich an der Krippe - nackt sehen. Dabei sehnen sich alle danach, dass die Welt ein neues Gewand bekommt.
Ohne Zeit und Zahl
Was jetzt noch zu sagen ist, soll gesungen werden. Einstimmung ist erbeten: die Einstimmung in den Lobpreis der himmlischen Heerscharen. Was Paul Gerhardt daraus macht?
Ich will dein Halleluja hier
mit Freuden singen für und für,
und dort in deinem Ehrensaal
solls schallen ohne Zeit und Zahl.
Solls schallen ohne Zeit und Zahl! Für Menschen, die klagen, keine Zeit zu haben, aber doch von der Zeit geradezu aufgefressen werden - für Menschen, die für alles Zahlen, Parameter und Budgets brauchen, aber in jeder Zahl das Gefühl haben, unterzugehen, hat Paul Gerhardt einen Blick offen: Den Blick in den Himmel. Von dem wissen wir heute Nacht so viel, dass uns die Tage hell werden.
Sie erinnern sich noch an die Frage: Was sucht Gott nachts auf dem Feld? Die Antwort wird nicht lange zu suchen sein. Er sucht uns Menschen. Er besucht uns. In lieben Worten lässt sich das sagen, singen, jubeln: Lebensfürst, Gnadenquell, Himmelsblum und Morgenstern - Jungfraunsohn, Herr aller Herrn. Frohe Weihnachten!
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus, unserem Herrn.