Wohnst du noch oder lebst du schon?
Das Evangelium ist vielen von uns vertraut. Weniger vom Gottesdienst am Sonntag, mehr aus den Gottesdiensten und Seelenämtern, wenn wir am Grab eines lieben Menschen stehen. Dort schenkt uns dieses Bild von den vielen Wohnungen den Trost und die Zuversicht, dass der Mensch, den wir hergeben müssen, nicht verloren ist, sondern seinen Platz erhält in einem anderen, von Gott geschenkten, neuen Leben.
Doch mehr noch beschäftigt die Frage des Wohnens die Menschen im Diesseits in allen Kulturen, von Anfang an. Und was im Sprichwort für Bücher gilt - nämlich "Sag mir was du liest, und ich sage dir, wer du bist!" das lässt sich beinahe 1:1 auf den Raum übertragen, den der Mensch bewohnt: "Sage mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist." Und es ist weder die Bibel, noch ein philosophisches Buch, sondern die schlichte Werbung, die Werbung eines weltweit bekannten Möbelhauses, die all dem noch mal eins drauf setzt, indem das Einrichtungshaus für seine Produkte mit dieser einfachen Frage wirbt: "Wohnst du noch oder lebst du schon?"
Wohnst du noch oder lebst du schon? Die Frage hat mich gepackt! Wohnen stand für mich bisher für leben. Die englische Sprache sieht es genauso: wohnen und leben haben das gleiche Wort. Nur dieses Möbelhaus scheint es anders zu sehen. "Wohnst du noch oder lebst du schon?" Das heißt doch: Leben ist mehr als Wohnen. Wenn ich an meine eigenen Besuche in Möbelhäusern zurückdenke, wird mir klar, dass Möbelhäuser Orte sind, in denen mit der Frage nach der Einrichtung immer auch eine tiefere Aussage gemacht wird. Nämlich die: welchen Stellenwert erhält was in meinem Leben? Möbelhäuser sind - zumindest für mich - Sinn-Orte, in denen Menschen das, was sie an kleinen und großen Werten, wie sie leben wollen, nach außen bringen.
Wohnungssuchende
Wohnst du noch oder lebst du schon? Mir kommen Antworten auf diese Frage in den Sinn, Antworten, die nicht in Möbelhäusern, sondern im Leben gefunden werden.
Zum Beispiel die stumme Antwort der Flüchtlinge aus Afrika, die über die kleine italienische Insel Lampedusa in diesen Tagen zu uns nach Europa drängen. Sie lassen sich kaum aufhalten. Sie nehmen die Strapazen und Gefahren des Meeres auf sich, in der Hoffnung bei uns ein wohnliches Haus, d.h. ein besseres Leben zu finden als das der Unterdrückung und der Verfolgung in Ihrem Land.
Wohnst du noch oder lebst du schon? Ich denke an die Pilgerinnen und Pilger, die sich auf den Jakobsweg nach Santiago de Compostella gemacht haben. Viele erzählen nach ihrer Rückkehr: Das, was ich unterwegs erfahren habe, hat mein Leben verwandelt.
Wohnst du noch oder lebst du schon? Ich denke an den Seligen Papst Johannes Paul II. Sein Pontifikat war keines der großen innerkirchlichen Reformen. Doch er sah wie kein anderer seiner Vorgänger seine Aufgabe darin, die päpstliche Wohnung zu verlassen und sich über alle Grenzen hinweg auf den Weg zu den Menschen zu machen, so dass trotz der drückenden Last der Geschichte Menschen wieder zusammen wohnen können und neues Leben möglich ist.
Ein Lebenshaus bauen
Jesus erzählt im Evangelium seinen Jüngern, dass es im Haus des Vaters viele Wohnungen gibt. Und die Lesung aus dem Petrusbrief ist eine Einladung an uns: "Lasst euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus auferbauen, zu einer heiligen Priesterschaft."
Was ist damit gemeint? Ganz einfach und ganz schwer: zu leben wie Jesus gelebt hat; Gottes Willen zu tun, der nichts anderes will als ein erfüllendes Leben für alle Menschen. Das war auch Jesu Lebenssinn. Wenn wir uns für gutes Leben einsetzen, kann die Erde zu einem Lebenshaus werden, in dem alle einen Platz finden. Wir sind als Christen zu einer königlichen Priesterschaft berufen. Das bedeutet, dass es in der Welt mehr gibt, als mich, eine größere Perspektive, die etwas von mir will. Ich bin nie nur für mich selber da, sondern immer auch für einen anderen. Die anderen, die uns rufen, sind Rückantwort unserer Berufung durch Gott. Wir müssen lediglich noch in Gang kommen. Geht hinaus in die Welt hat Christus gesagt. Und nicht: Setzt euch hin und wartet bis einer kommt.
Indem er Weg, Wahrheit, Leben ist und dazu ermutigt, werden Menschen zum wahren Mensch- und Christsein geführt. Nicht äußerlich durch Gebote und Verbote, sondern innerlich: durch die Mobilisierung all der Fähigkeiten und Kräfte, die den Menschen vom Vater gegeben sind, damit sie wachsen und schon jetzt Reich Gottes gegenwärtig setzen in der Welt. Die entscheidende Frage jedoch ist, ob es uns gelingt, über Jahrhunderte gewohnte und damit verfestigte Standpunkte auf den Prüfstand zu stellen, ob sie nicht uns selbst dienen, sondern IHM, der als Weg, Wahrheit und Leben in den Herzen der Menschen wohnen will und sich in der Kraft seines Pfingstgeistes dort schon lange Wohnungen errichtet hat.
Wie Gott unter den Menschen wohnt
Ich möchte die ansprechenden Bilder von den lebendigen Steinen und den vielen Wohnungen, die uns in Lesung und Evangelium vorgezeichnet wurden, gerne mit den bunten Farben meines ganz persönlichen Kirchentraumes etwas weiter ausmalen:
Ich träume von einer Kirche, die den Menschen nicht mit wehenden Fahnen vorauseilt, sondern die in allen Fragen an der Seite des Menschen steht, in die Frauen und Männer gleichberechtigt ihre Fähigkeiten einbringen können und die auch Menschen nach einem Scheitern begleitet und weiterführt.
Ich träume von einer Kirche, in der Menschen (wieder wie am Anfang der Kirche) als Hauskirchen in ihren Wohnungen das Brot miteinander teilen und besonders die einladen, die auf der Suche sind. So bezeugen sie den, der von sich gesagt hat: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.
Ich träume von einer Gemeinde, die nicht nur eine Kirche und ein Gemeindehaus, sondern auch eine Kleiderkammer und ein Kontaktcafe hat. Und zwar für die vielen vom Leben Gezeichneten, die sich sonst nicht sehen lassen und die wir kaum erreichen. - Mit der Tasse Kaffee und der Babykleidung, finden sie dort zwei Mitarbeiter von Caritas und Gemeinde als erste Ansprechpartner für das, was sie suchen, aber auch für das, was sie geben können.
Ich träume von einer Gemeinde, die entdeckt hat, dass nicht nur in Gottesdiensten, Glaubensgesprächen und Bibelkreisen, sondern auch in ihrer Kindertageseinrichtung religiöses Leben hoch präsent ist. Deshalb entscheidet sich die Gemeinde dafür, einen Teil der Öffnungszeiten des Pfarrbüros und der Sprechzeiten der Seelsorgerin dorthin zu verlegen.
Ich träume von einem Gemeindekindergarten, der zwei Tage in der Woche in einem Altenheim stattfindet. Das tut den alten Menschen und den Jungen gut.
Manches davon ist bereits kein Traum mehr; da und dort gibt es so etwas schon. Es bezeugt die vielen Wohnungen Gottes unter den Menschen. Es ist sichtbar gewordenes Evangelium, sozusagen "frohe Botschaft zum Anfassen", und nicht zuletzt eine starke Antwort auf die Frage: "Wohnst du noch oder lebst du schon?"