Sonntag der Barmherzigkeit oder Sonntag des "ungläubigen Thomas"
Vor einigen Tagen bin ich über die Aussage von Kardinal Walter Kasper gestolpert, in der er die These aufstellt Barmherzigkeit sei ein sträflich vernachlässigtes Thema der Theologie (vgl. Kontexte).
Johannes Paul II. hat den Weißen Sonntag zum Sonntag der Barmherzigkeit erklärt. Lange Zeit konnte ich damit nichts anfangen, denn ich sah dieses Motiv ausreichend in der Tradition der Fastenzeit verankert, und es irritierte mich am Oktavtag des Osterfestes. Vielleicht hat es auch ein wenig damit zu tun, in welcher Weise diese Anregung des damaligen Papstes aufgegriffen wurde. An manchen Orten hat man versucht, die darniederliegende Beichtpraxis mit "Abenden der Barmherzigkeit" neu zu beleben, deren liturgische Gestaltung ich bestenfalls als "gut gemeint" bezeichnen kann.
Der Weiße Sonntag war für mich immer der Sonntag des "ungläubigen Thomas", wie der Apostel fälschlicherweise landläufig genannt wird. Thomas ist Repräsentant jener, die es genau wissen wollen, die Glauben und Verstand in Einklang bringen wollen und nicht zu einem "blinden Glauben" bereit sind. Sollte man nicht Thomas zum Patron derer erklären, die Glauben und wissenschaftliches Denken miteinander verbinden wollen? Ein Sonntag für skeptische Gläubige oder für glaubenswillige Skeptiker täte unserer wissenschaftsgläubigen Zeit sicherlich gut.
Sonntag der Aussendung
Andererseits fand ich immer schon schade, dass die Geschichte des Apostels Thomas immer den ersten Abschnitt des heute vorgetragenen Evangeliums, der mindestens ebenso wichtig ist, in den Hintergrund drängte. Spielt doch diese Szene in der Dramaturgie des Evangelisten Johannes eine zentrale Rolle. Unverdeckt - im Gegensatz zur Begegnung mit Maria von Magdala, die Jesus zunächst für den Gärtner hält - tritt der Auferstandene einerseits göttlich erhöht, andererseits menschlich nahe, seinen Jüngern gegenüber und sendet sie: "Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch."
Die Apostel sollen sein Werk fortführen. An seiner Stelle setzt er sie ein, die Sendung des fleischgewordenen Wortes (vgl. Prolog des Johannesevangeliums) fortzuführen. Er haucht ihnen den Geist ein, der ihn selbst geführt und getrieben hat. Was dieser Akt dem Inhalt nach bedeutet hat Johannes fünf Kapitel lang (ein Viertel seines Evangeliums!) in den sog. Abschiedsreden, angefangen mit der Fußwaschung, dem Liebesgebot, der Verheißung des Geistes und einer Reihe anderer zentraler Motive christlichen Lebens vor seinem Leiden dargelegt. Nun übergibt er das alles seinen Jüngern als Vermächtnis.
Eine "Mission der Barmherzigkeit"
Überraschenderweise gipfelt sein Testament im Satz: "Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert." Was der Evangelist Matthäus zugespitzt auf Petrus, den Ersten der Apostel, ausformuliert (Mt 16,18-19) begegnet uns hier viel weiter und offener. Die Versöhnung der Menschheit mit dem Vater, die Jesus durch seine Verkündigung, sein Leiden, Tod und Auferstehung grundgelegt hat, soll nun durch die Jünger zu allen Menschen gebracht werden. Die Barmherzigkeit des Vaters soll allen Menschen bekannt gemacht werden, so der johanneische Akzent des Missionsbefehls. Der Geist der Barmherzigkeit soll das Angesicht der Erde erneuern. Ein Pastoralprogramm, das es auch 2000 Jahre später noch einzulösen gilt (vgl. dazu Ottmar Fuchs, Wer's glaubt wird selig... Wer's nicht glaubt, kommt auch in den Himmel. Echter Verlag; und Hubertus Halbfas, Glaubensverlust. Warum sich das Christentum neu erfinden muss. Patmos Verlag.).
Wenn wir diese "Mission der Barmherzigkeit" ernst nehmen und von den verrechtlichten Verkrustungen der letzten Jahrhunderte befreien, wenn wir unsere theologischen Maximen mehr an dem Evangelium ausrichten als an den philosophischen und theologischen Fragestellungen vergangener Jahrhunderte, werden wir auch Lösungen für Fragen finden, die heute viele Menschen abhalten, der christlichen Überlieferung zu folgen. Wenn der Großteil der jüngeren Generationen dem Christentum skeptisch gegenübersteht und mit den derzeit herrschenden Theologien wenig anfangen kann, hat dies meines Erachtens auch damit zu tun, dass sie darin den Geist, der Jesus beseelte, nicht entdecken.
Solange der Geist der Barmherzigkeit nicht auch den kirchlichen Umgang mit Macht, mit in Beziehungen Gescheiterten, mit den Forderungen nach Gendergerechtigkeit, nach einem menschenwürdigen Umgang mit Sexualität und vielem anderem mehr durchdringt und grundlegend verändert, werden unsere missionarischen Bemühungen wenig ausrichten.
Den Geist der Barmherzigkeit entdecken
Thomas versäumt diese erste Begegnung der Jünger mit dem Herrn und er will Fakten sehen, die er begreifen kann. Als ihm Jesus eine Woche später gegenübertritt, ist dieser Wunsch plötzlich zweitrangig. Er wird überwältigt von der Ausstrahlung, die von der Person des Auferstandenen ausgeht. Nun "sieht" er viel mehr, als er zu sehen verlangte, und bekennt: "Mein Herr und mein Gott!".
Auch wir sind eingeladen, dem auferstandenen Herrn zu begegnen. Der Weg dorthin führt jedoch nicht über die Lösung theologischer, philosophischer oder naturwissenschaftlicher Fragen, sondern über die Begegnung mit der Person Jesu Christi. Was er denkt, was er tut und welcher Geist ihn erfüllt, entdecken wir im Lesen und Betrachten der Evangelien, im Gebet und in der Feier der Sakramente.