Zur Würde behinderter Menschen
Tief sitzende Widerstände
Von je her gab es behinderten Menschen gegenüber Formen der Abgrenzung, die oft zur Ausgrenzung führten. Als »Krüppel« und »Schwachsinnige« abgestempelt, hatten die behinderten Menschen noch nie viel zu lachen.
In der Antike waren griechische und römische Schönheitsideale maßgebend: perfekte Menschen mit perfekten Körpern. Sie wurden in der Kunst vor Augen geführt. Wer diesem Ideal nicht entsprach, war der Darstellung nicht würdig. Der große Philosoph Platon forderte, verkrüppelte Kinder auszusetzen. Es war ein langer Weg vom Tollhaus bis zur Werkstatt für Behinderte. Heute gibt es Arbeitsplätze in der freien Wirtschaft und Verwaltung - wenn auch zu wenige -, es gibt Förderprogramme und finanzielle Vergünstigungen, es gibt Stiftungen, die zum Leben mit einem behinderten Kind ermutigen.
Dennoch, allzu oft sind archaische Praktiken nicht wirklich überwunden, sondern nur zivilisatorisch verfeinert. Wir lassen es zu, dass Kinder bis zum neunten Monat unter dem Vorzeichen einer falsch verstandenen Mitmenschlichkeit abgetrieben werden. Diese Einstellung ist oft genug das Produkt eines in den Medien propagierten Schönheitswahns. Längst lebt der alte Traum vom perfekten Menschen wieder auf - vom Menschen mit medizinischem Gütesiegel. Er wird stets auf Kosten der nicht so perfekten Menschen geträumt. Dazu gehören wir früher oder später alle.
Jeder kennt das: Wenn wir Menschen mit schweren Behinderungen sehen, erschrecken wir fast instinktiv und weichen aus. Wir versuchen, uns möglichst schnell an ihnen vorbeizudrücken. Manch einer denkt: >Besser, sie wären nicht geboren! Was wäre den Eltern und der Gesellschaft alles erspart geblieben!< Die Abneigung gegen körperlich oder geistig behinderte Menschen ist tief in die Evolution des Lebendigen eingeschrieben, sie sitzt uns in den Knochen. Gerade in unserer Gesellschaft sehen wir fast nur noch Gesundheit und Vitalität, Stärke und Leistung. Niemandem ist ein Vorwurf daraus zu machen, dass er verunsichert ist und abwehrend reagiert, wenn er behinderten Menschen begegnet. Aber das ist keine Entschuldigung, sondern ein Auftrag: Wir haben lebenslang daran zu arbeiten, sie in Freiheit und Liebe zu würdigen wie jeden anderen Menschen. Das ist ein Zeichen von Kultur.
Minusvariante des Normalen?
Von entscheidender Bedeutung ist die Art und Weise, wie unsere Gesellschaft Behinderung wahrnimmt. Die meisten Mitmenschen sehen in körperlichen und geistigen Behinderungen eine Funktionsstörung. Normale biologische Prozesse scheinen gestört zu sein. Behinderung, so das gängige Verständnis, ist eine dauerhafte Beeinträchtigung von dem, was eigentlich »normal« ist. Ein Behinderter besitzt nicht die volle Leistungsfähigkeit. Behindertes Leben - so könnte man zugespitzt formulieren - erscheint wie eine Minusvariante des Normalen. Das Normale ist das voll funktionsfähige menschliche Leben, Behinderte sind die, die das nicht schaffen. Also stehen sie unter einem Minus als Vorzeichen.
Diese Vorstellung war vielleicht immer schon da, aber sie hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Paradoxerweise haben gerade die beachtlichen Fortschritte bei der Rehabilitation der Behinderten mit dazu beigetragen. Viele Rehabilitationsmaßnahmen sind auf medizinisch feststellbare Schädigungen und auf funktionale Ausfälle konzentriert. Diese Konzentration wird begünstigt durch ein immer stärker naturwissenschaftlich geprägtes Bild vom Menschen, das nur seine biologischen und psychosomatischen Funktionsabläufe wahrnimmt. Dadurch bekommen die biologischen Defizite ein Übergewicht. Mit den Möglichkeiten der genetischen Diagnostik hat sich dieser Blickwinkel weiter verstärkt. Man kann heute bereits im 8-Zell-Stadium, also wenige Stunden nach der Befruchtung einer Eizelle, über 600 genetische Defekte diagnostizieren.
Statt immer nur das zu sehen, was Behinderte nicht können, brauchen wir einen Blick auf ihre Fähigkeiten. Jeder von uns hat Fehler. Jeder von uns ist in bestimmten Bereichen unterdurchschnittlich. Aber unser Selbstwertgefühl, unser Selbstverständnis beruht nicht auf unseren Mängeln, sondern auf dem, was wir können, was wir zu leisten imstande sind. Die reine Defizit-Sicht von Behinderung muss einem anderen Verständnis Platz machen. Danach ist Behinderung nicht die gestörte Funktionsfähigkeit eines Menschen, sondern das Ergebnis einer erschwerten, unter Umständen gestörten sozialen Beziehung zwischen einer organisch versehrten Person und ihrer Umwelt. Erst dieser gestörte Alltagsumgang macht den Benachteiligten zum Behinderten. In diesem Sinn sieht zum Beispiel die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Behinderung durch das Zusammenwirkung von drei Faktoren verursacht: durch eine anatomische Schädigung (impairment), durch verschiedene Funktionsbeeinträchtigungen infolge dieser Schädigungen (disabilities) und der Benachteiligung im Alltag (handicap). Oftmals sind es die in ihren Folgen überhaupt nicht beabsichtigten Rückmeldungen und Reaktionen der »Nichtbehinderten« auf Behinderte, die dessen »Anormalität« als unverarbeitete Fremdheitserfahrung oder gar als fundamentale Bedrohung ihres Selbstwertes erleben. Zugespitzt formuliert: Behindert wird man nicht allein durch eine Beeinträchtigung, sondern durch eine behinderte Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, mit dem Anderssein von Mitmenschen umzugehen, die ihnen neben der eh schon vorhandenen Beschädigung auch noch den Stempel »behindert« aufzwingt. Ist das nur eine einmalige Entgleisung, wenn eine Fernsehmoderatorin Behinderte als »hoffnungslos hässliche Menschen« und »menschliche Naturkatastrophe« bezeichnet? Das ist Zeichen einer Kulturkatastrophe.
Statt behinderte Menschen immer nur in der Perspektive ihres Unvermögens zu sehen, gilt es die Augen zu öffnen für ihre Fähigkeiten. Wer Behinderung mit Leiden gleichsetzt, der übersieht viel Lebensfreude, viel Charakterstärke in der Art, wie Betroffene Einschränkungen ins eigene Leben integrieren. Im Atelier der Lebenshilfe Frankfurt arbeiten 18 geistig behinderte Maler und Bildhauer. Nicht ihre Behinderung weckt ihre Kreativität, sondern ihre Begabung. Selbstwertgefühl und Selbstverständnis beruhen nicht auf unseren Defiziten, sondern auf unseren Fähigkeiten und Möglichkeiten.
Behinderte Gesellschaft
Es geht hier nicht darum, das Leben von und mit behinderten Menschen schönzureden. Es gibt unter ihnen Verzweifelte, die lieber tot sein wollen, als dass sie leben. Sie können ihr Leben nicht annehmen, weil sie selber von ihrer Umwelt nicht angenommen sind. Genau das macht ihre eigentliche Behinderung aus; genau das können wir ändern, wenn wir es ändern wollen. Nicht körperliche oder geistige Beeinträchtigungen als solche, sondern deren soziale Folgen, die Reaktion der anderen lassen behinderte Menschen in erster Linie an ihrem Leben verzweifeln.
Ein in seiner eigenen Familie betroffener Journalist schrieb vor einiger Zeit (in »Die Zeit«): »Vor drei Jahren kam meine Tochter Karolina auf die Welt - Karolina hat das Down-Syndrom ... Mit diesem Problem mussten wir zunächst lernen umzugehen. Konfrontiert wurden wir auch mit den Reaktionen der Umwelt. Häufige Fragen von Bekannten und Freunden: Konntet ihr das nicht verhindern? Ehrlich, ich weiß nicht, wie wir entschieden hätten, wäre uns der Befund vor der Geburt bekannt gewesen. Mit meinem heutigen Wissen würde ich mich klar gegen eine Abtreibung eines Kindes mit Trisomie 21 aussprechen. Karolina, ein dreijähriges, glückliches Mädchen mit Down-Syndrom, meine Tochter: lieb, laut, lustig. Ihr kleines Leben ist nicht die Hölle - auch wenn es unwissende Zeitgenossen nicht glauben mögen. Die Hölle ist, wenn Ärzte in den Kliniken nicht in der Lage sind, geschockte Eltern eines neugeborenen behinderten Babys einfühlsam aufzuklären. Die Hölle ist, wenn die Menschen auf der Straße nur glotzen, sich nicht trauen zu fragen. Unwissenheit, Ignoranz und Intoleranz sind es, die ein Leben mit Behinderung zur Hölle machen können.«
»Einer trage des anderen Last«
Behinderte haben ihren Mitmenschen viel zu sagen: >Merkt ihr nicht<, sagen sie, >wie behindert ihr seid: behindert durch eure Vorstellung, ihr dürftet von niemandem abhängig sein, ihr müsstet alles selbst in den Griff bekommen und unter Kontrolle haben ...< Wir vermeintlich Unbehinderten sind auf die Behinderten angewiesen, um die eigenen Grenzen zu entdecken und dazu zu stehen. Je mehr jemand mit seinen eigenen Behinderungen und Einschränkungen fertig wird, wird er auch ein Gespür für den Umgang mit behinderten Menschen bekommen.
Der evangelische Pfarrer Ulrich Bach, seit dem 23. Lebensjahr an den Rollstuhl gefesselt, sagt: »Eine Gemeinde ohne Behinderte ist eine behinderte Gemeinde.« Sie hat nicht begriffen, was sie nach Gottes Willen in dieser Welt sein soll: Nicht nur eine Gemeinde von gesunden, glaubensstarken und belastbaren Leuten, die sich einsetzen für die Armen, Schwachen und Behinderten. Sie soll vielmehr eine Gemeinschaft von Menschen sein, von denen keiner ganz schwach und keiner ganz stark ist, keiner nur behindert und keiner ganz unbehindert; eine Gemeinschaft von Menschen, die Jesus an seinem Tisch zusammengebracht hat und beieinander hält, damit sie sich mit ihren Stärken und Schwächen ergänzen, einer die Last des anderen trägt, mit der Schulter, die er gerade frei hat. »Was wir können und was wir nicht können, das alles gehört uns gemeinsam. Und für uns miteinander wird's schon reichen.« Wo dieser Geist herrscht, da lernen Eltern, ein behindertes Kind anzunehmen.
Aus: Franz Kamphaus, Um Gottes willen - Leben. Einsprüche. Mit einem Vorwort von heinz-Günther Stobbe. Herder Verlag, Freibrg Basel Wien 2004.
Hans Hütter (2000)