Leben vor dem Tod
Der 1936 geborene Liedermacher und Lyriker Wolf Biermann hat 1976 ein Lied unter dem Titel „Es gibt ein Leben vor dem Tod“ veröffentlicht. (Text in den „Kontexten“) In den ersten drei Strophen reflektiert er die Überzeugung vieler Menschen über ein „Leben nach dem Tod“. Er beschreibt die christliche Hoffnung auf die Auferstehung Jesu Christi und die Freude der Jünger über das gewonnene „Leben nach dem Tod“. Er findet diese Hoffnung auf das „Leben nach dem Tod“ in der Kunst Picassos und sogar in seinen eigenen Erfahrungen. In der abschließenden Strophe hat er aber eine Anmerkung zu machen und fragt sich, ob diese Überzeugung nicht zu schnell zu einem billigen Trost über die je eigene Lage verkommt und schließt die Lyrik seines Liedes mit dem Wunsch ab: „… wir hättens gern: auch vor unserem Tod ein Leben.“
Mit diesem harten Gegensatz von „Leben vor dem Tod“ und „Leben nach dem Tod“ spielt in sehr eindringlicher Weise auch das Evangelium des heutigen Sonntags. Es thematisiert die Hoffnung auf einen vollständigen Ausgleich zwischen Armen und Reichen im Endgericht und beschreibt die radikale Umkehrung der Lebensverhältnisse im Tod. Für alle Unterdrückten und Geschundenen sicherlich eine tröstliche Vorstellung.
Trotzdem lässt mich die Frage Wolf Biermanns nicht los: Reicht es wirklich aus, den Armen der Welt die tröstende Hoffnung vor Augen zu stellen? Haben nicht vor allem die Armen - aber auch wir anderen - ein Recht auf ein lebenswertes „Leben vor dem Tod?“
„Lazarus“ - „Gott hilft“
Die großen bischöflichen Hilfswerke ermutigen immer wieder dazu: „Von den Armen lernen!“ So frage ich mich: Kann ich etwas von den im Evangelium beschriebenen Armen lernen? Ich finde eine Antwort in der Bedeutung des Namens „Lazarus“: „Gott hilft“! Der Arme wird uns also als ein Mensch vorgestellt, der ganz aus der Hoffnung auf Gott heraus lebt und dessen Hoffnung sich schließlich erfüllt: Er wird getröstet und in Abrahams Schoß getragen.
Was ist, wenn diese Hoffnung auch mein Herz ergreift und ich aus dieser Hoffnung heraus lebe? Drängt mich diese Hoffnung nicht gerade dazu, der Not der Welt nicht gleichgültig gegenüber zu stehen? Mich nicht damit abzufinden, dass Menschen buchstäblich mit einem Leib voller Geschwüre leben müssen und ihren Hunger noch nicht einmal mit dem dem stillen können, was vom Tisch der Reichen herunter fällt?
Menschen in innerer Unruhe
Körperliche Geschwüre sehe ich in meinem Lebensumfeld so gut wie nie-, aber sehr wohl Menschen, die sich ausgebrannt fühlen, von einer inneren Unruhe gehetzt werden, unzufrieden sind, (noch) nicht psychisch krank sind, aber spüren: In mir ist etwas in Unruhe und Unordnung geraten. Oftmals stehen sie deshalb allein da, weil die Menschen ihrer Umwelt solche inneren Unruhen als Schwäche brandmarken oder sogar um des eigenen Fortkommens ausnutzen.
Ich sehe so viele Kinder, die immer noch in den Schulen deshalb nicht zurecht kommen, weil ihre Eltern aus den sog. „bildungsfernen Schichten“ kommen oder finanziell einfach nicht in der Lage sind, ihren Kindern eine gute schulische Ausbildung zu ermöglichen. Trotzdem sind viele an Bildung oder Finanzen „reiche“ Eltern nicht bereit, sich auf ein anderes Bildungssystem einzulassen.
Es kommen viele Menschen auf mich zu, die auf der Suche sind: Nach einem Sinn in ihrem Leben, nach einem Gott, dem sie vertrauen können, nach einer Spiritualität, die ihr Leben trägt. Die mir aber auch erzählen, dass sie sich in unseren Gemeinden deshalb nicht aufgehoben fühlen, weil wir einen so satten und abgeklärten Glauben vermitteln, der keinen Platz für Fragen. Zweifel und Suchen lässt.
Recht auf erfüllbare Hoffnungen
Allein diese Beispiele zeigen die Herkulesaufgabe vor der diejenigen stehen, die auch nur ansatzweise versuchen, die Probleme anzupacken und sich nicht mit einer Vertröstung auf eine besser Zukunft oder sogar das bessere Jenseits zufrieden geben wollen.
Und auch ich finde, dass Menschen, die vom Leben in einer unübersichtlichen und orientierungslosen Welt überfordert sind, ein Recht darauf haben, vor dem Tod wieder Mut und Hoffnung zu haben. Ich möchte, dass Kindern unabhängig von den sozialen und finanziellen Voraussetzungen ihrer Eltern eine gute schulische Ausbildung ermöglicht wird und sie Zugang zur Bildung finden. Ich möchte, dass zweifelnde und fragende Menschen schon in diesem Leben eine Ahnung vom lebendigen Gott bekommen und in ihrem Leben diesen Gott ansatzweise erfahren können.
Lebenswertes Leben vor dem Tod
Ich möchte von Lazarus die Hoffnung lernen, dass Gott hilft. In diesem Leben. Ich möchte Wolf Biermann so viele Beispiele für ein lebenswertes Leben vor dem Tod nennen. Ein Leben, das nicht nur den Reichen vorbehalten ist, sondern zu dem gerade auch die Armen und Benachteiligten Zugang finden können.
Und ich möchte ihm von der Kraft der Hoffnung erzählen können, die mir der Glaube an Jesus Christus dabei schenkt. Dass ich mich davon habe überzeugen lassen, dass er von den Toten auferstanden ist. Und ich möchte ihm all die anderen Menschen zeigen, die mit mir überzeugt sind, die aus der Kraft der Hoffnung der Armen mutig eintreten für ein Leben vor dem Tod und dabei nicht vergessen, dass unsere Zukunft nicht in der Unterwelt liegt, sondern im Schoß Abrahams. Ich möchte ihm, von uns erzählen. Von Ihnen, liebe Schwestern und Brüder. Von der Kirche und unserer Gemeinde.