Staunen
Heute haben wir die Kirche schön geschmückt. Es leuchtet und duftet. Schaut euch doch jetzt erst einmal um! Blumen, Kohl und Gemüse, Äpfel, Kartoffeln und Korn - alles, was wir zum Leben brauchen, was gut schmeckt, was unseren Hunger stillt. Zugewachsen ist uns das alles - sagen wir es auch: Wir sind reich beschenkt. "Danke" wollen wir heute sagen. "Danke" wollen wir singen.
1783 erzählt Matthias Claudius im Wandsbecker Boten von einem Erntedankfest auf dem Lande. Titel: "Paul Erdmanns Fest". Hören wir den Vorsänger, Hans Westen:
"Im Anfang war’s auf Erden
Nur finster, wüst, und leer;
Und sollt was sein und werden,
Mußt es woanders her.
So ist es zugegangen im Anfang, als Gott sprach;
und wie es angefangen, so geht’s noch diesen Tag."
Dann singen alle Bauern:
"Alle gute Gabe
Kam oben her, von Gott,
Vom schönen blauen Himmel herab!"
Mit eigener Melodie und sprachlich leicht verändert tritt dieses Bauernlied einen Siegeszug an.
"Wir pflügen, und wir streuen den Samen auf das Land,
doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand:
der tut mit leisem Wehen sich mild und heimlich auf
und träuft, wenn heim wir gehen, Wuchs und Gedeihen drauf."
Den Refrain singen alle:
"Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn,
drum dankt ihm dankt, drum dankt ihm dankt
und hofft auf ihn."
Wer Gott dankt, kann auch mit großen Augen staunen. Der kann sich auch nicht satt sehen. Der nimmt nicht Dinge in die Hand, sondern Gaben - Gottes Gaben.
Wir leben, selbst auf dem Land, mit Supermärkten, Einkaufszentren - und ganz vielen Angeboten. Sie flattern uns mit der Zeitung ins Haus. Selbst Bohnen sind nicht davor gefeit, in einen Kampf gezogen zu werden. Wir regeln alles über den Preis. Dass gesät und geerntet wird, bekommen wir kaum mit. Wir zahlen an der Kasse, bar oder mit Karte.
Wer aber einen Garten hat, kann zusehen - wie alles wächst. Es ist schön, in einem Garten zu sitzen. Wenn die Sonne untergeht … wenn der Abend kommt. Was ich alles nicht machen kann! Nicht machen muss! Ich möchte wieder lernen - zu staunen.
Vögel unter dem Himmel und Lilien auf dem Feld
Jesus lenkt unsere Blicke auf die Vögel unter dem Himmel und auf die Lilien auf dem Feld. Jetzt heißt es, die Augen aufzumachen, genau hinzuschauen und sich verzaubern zu lassen. Widersprüche sind nicht möglich, auch nicht angezeigt. Die Vögel unter dem Himmel wie auch die Lilien auf dem Felde sind beschenkt. Sie arbeiten nicht, sie rechnen nicht, sie bilanzieren nicht. Sie kennen kein Soll, sie kennen kein Haben. Sie brauchen auch kein Budget, keine Kostenkontrolle. Die Vögel haben den Himmel für sich - und die Lilien überschütten die Erde mit Farben. Den Vögeln sehe ich nach. Sie sind schnell, zu schnell für meine Fotokunst. Aber den Lilien rücke ich mit meiner Digitalkamera auf den Leib. Wenigstens ein Bild will ich haben. Ein Bild!
Jesus hält übrigens seine große Antrittsrede, die wir als Bergpredigt kennen - vielleicht auch lieben gelernt haben. Er macht Vögel und Lilien zu Kronzeugen seiner Barmherzigkeit. Zu Kronzeugen der Schöpfung. Es ist, als ob Gott sein Geheimnis lüftet. Und unser Leben gut anschaut.
Matthias Claudius lässt uns singen:
"Er sendet Tau und Regen und Sonn und Mondenschein
und wickelt seinen Segen gar zart und künstlich ein
und bringt ihn dann behende in unser Feld und Brot
es geht durch unsre Hände, kommt aber her von Gott."
Dann wieder in einem Chor:
"Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn,
drum dankt ihm dankt, drum dankt ihm dankt
und hofft auf ihn."
Ich weiß: Selbst Landwirte haben ausgefeilte betriebswirtschaftliche Systeme, um ihre Produkte in den Griff zu bekommen. Ihre Produkte, ihre Produktpalette. Das Wort ist verführerisch. Letztlich entscheiden Produktmengen, Kennzahlen und Subventionen über Erfolg und Misserfolg. Staunen ist keine Kategorie, die bewertet werden könnte.
Als Erzeuger und Verbraucher - so heißen die Menschen wohl, die in diesem Spiel vorkommen - leben wir von etwas, das uns gegeben wird. Es gibt zwar eine Saatgutforschung, aber Saatgut wird nicht gemacht - es gibt hochtechnische Mähdrescher, aber die Ernte wird nicht gemacht. Wir säen und wir ernten - als Beschenkte. Als Beschenkte können wir "danke" sagen. Wer Ansprüche hat, kann klagen. Kann vor Gericht gehen. Kann den Rechtsweg beschreiten. - Es ist dieser kleine Blick hinter die Kulissen, der auch den Verstand schärft.
Dass auch das ein gutes, großes, großartiges Geschenk ist, was uns Arbeit macht oder beschert, wissen die zu gut, die arbeitslos geworden sind und mit ihrer Situation schwer oder gar nicht fertig werden. Geschenkt ist eigentlich alles: unser Leben, unsere Beziehungen, unsere Arbeit, unsere Träume. Es gibt nichts, was selbstverständlich ist, nichts, was wir nur in unserer Hand hätten.
Während wir unsere Möglichkeiten abwägen, Pläne und Karrieren schmieden, Erreichtes und noch nicht Erreichtes bilanzieren, werden uns - heute - mit der größten Selbstverständlichkeit, Vögel und Lilien vor die Augen gemalt. Und die Worte Jesu sind ebenso einfach wie eindrücklich: Seht euch die Vögel des Himmels an! Lernt von den Lilien auf dem Feld! Es könnte sein, dass wir größere Lehrmeister nicht finden - und auch nicht brauchen.
Herr und Frau Sorge
Noch einmal Matthias Claudius:
Was nah ist und was ferne, von Gott kommt alles her,
der Strohhalm und die Sterne, das Sandkorn und das Meer.
Von ihm sind Büsch und Blätter und Korn und Obst von ihm
das schöne Frühlingswetter und Schnee und Ungestüm.
Wieder resümiert der Chor:
"Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn,
drum dankt ihm dankt, drum dankt ihm dankt
und hofft auf ihn."
Ein großes Vertrauen liegt in diesen Worten. Jesus erzählt von den Vögeln und von den Lilien, um uns die Sorge zu nehmen - und die Angst, wir könnten unser Leben verlieren, unsere Zukunft. Wenn Herr oder Frau Sorge zu uns kommen, verlieren wir den Kopf. Wir haben es nicht geschafft. Wir haben es wieder einmal mehr nicht geschafft. Wir spüren, wie es eng wird. Immer enger. Ist die Sorge erst einmal im Haus, werden wir sie auch so schnell nicht wieder los. Sie setzt sich ungefragt hin und bleibt einfach sitzen.
Ich weiß, dass für viele Menschen die Sorgen ständige Begleiter sind. Lebensmittel müssen billig sein, die Kleidung auch. Unternehmen, die arme und abhängige Menschen in der sog. Dritten Welt ausbeuten, machen dann doch immer noch Kasse bei uns. Armut ist käuflich - Reichtum nicht. Es gibt Armut unter uns. Zunehmend. In einem reichen Land. Viele merken die Kluft zwischen reich und arm. Ob die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Felde trösten?
Aber Jesus spricht nicht nur von Vögeln und von Lilien: er spricht von der Gerechtigkeit, er spricht von dem Reich Gottes. Wer die Vögel unter dem Himmel sieht, wer die Pracht der Lilien bestaunt: der sieht die Not. Der sieht die Sorge. Der sieht die Angst. Die Vögel und die Lilien sind nicht nur Kronzeugen der Barmherzigkeit Gottes - sie sind auch Kronzeugen unserer Verantwortung. Jesus sagt: Ihr seid viel mehr als sie!
Heute haben wir die Kirche schön geschmückt. Es leuchtet und duftet. Schaut noch einmal umher. Blumen, Kohl und Gemüse, Äpfel, Kartoffeln und Korn - aber es ist mehr in diesem Raum, mitten unter uns: Hunger, Flucht, Vertreibungen - Sorgen und Ängste.
Jesus sagt: Euch aber muss es zuerst um sein - Gottes - Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben.
Und der Friede Gottes,
der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.