Mühevoller Generationenvertrag
„Mein Vater wird bald 86 Jahre alt und seine Alterssturheit wird von Tag zu Tag schlimmer. Er war Kleingewerbetreibender und hat immer und überall die Fäden in der Hand gehabt. Meine Mutter, die vor Jahren gestorben ist, war sehr gutmütig und hat nie gegen ihn aufbegehrt. Nach ihrem Tod ist er in ein tiefes Loch gefallen und hat laufend über alles geklagt, um sich unsere Zuwendung zu holen. Oder besser gesagt, um mit uns anzuschaffen. Anschaffen kann er immer noch sehr gut. Und alles muss auf der Stelle passieren. Er selbst macht keinen Handstrich. Seit einiger Zeit machen wir aus Enttäuschung nichts mehr für ihn. Es tut uns aber leid, weil er ja doch unser Vater ist. Und wir haben schon so oft überlegt, was wir tun könnten, wie wir ihn überreden könnten, vielleicht selbst Hilfe zu suchen. Bis jetzt sind leider alle Versuche gescheitert.“
„Meine Mutter ruft mich ständig an und will mich immer in ihrer Nähe haben. Seit dem Tod des Vaters vor einem Jahr beansprucht sie mich immer mehr. Ich spüre ihre stillen Vorwürfe, wenn ich mal ungehalten bin oder sage, dass ich keine Zeit habe, dabei bin ich so viel bei ihr. Für meine Familie ist das eine große Belastung und ich habe dann ein schlechtes Gewissen. Ich habe Angst, was wird, wenn sie wirklich intensiver betreuungsbedürftig wird.“
Im Hintergrund der Schilderung zweier Frauen steht die gleiche Problematik: Die Eltern brauchen Hilfe, sie erwarten sich von ihren Kindern, dass sie nun ihren Teil des Generationenvertrages erfüllen. „Früher waren wir für euch da, wir haben euch großgezogen, viele Opfer gebracht, damit ihr eine Ausbildung bekommen konntet, wir haben für euch die Wäsche gewaschen, an eurem Bett gesessen, wenn ihr krank wart … nun seid ihr an der Reihe.“ Nur selten sprechen die alten Eltern ihre Erwartungen deutlich aus. Dennoch hören die erwachsenen Kinder diese Botschaft – zwischen den Zeilen, in Andeutungen und manchmal nur in der eigenen Phantasie. Aber sie wissen oft nicht, wie sie mit diesen Erwartungen umgehen sollen.
Die Betreuung und Pflege, die oft langsam und schleichend aber auch plötzlich über die Familien hereinbricht, stellt dann eine große Herausforderung dar: Abschied von Lebensplänen, Doppelbelastung Beruf und Pflege, zeitlich sehr angehängt sein und Verlust von sozialen Kontakten und Netzwerken, psychische Belastung durch Trauerprozesse, depressive Reaktionen der pflegebedürftigen Angehörigen, physische Belastungen durch verschiedene Pflegetätigkeiten, …
Konfrontiert mit Ungelöstem
Im Zusammenhang und Verlauf der Pflege kommt nicht selten so manches Ungelöste in der Beziehungsgeschichte mit den Eltern an die Oberfläche: latente nicht angesprochene Konflikte, Kränkungen und Verletzungen, die nicht geklärt wurden, alte Rechnungen, die nicht beglichen wurden. „Ich war in der Familie immer das schwarze Schaf und konnte nichts recht machen, das kommt jetzt immer wieder hoch, wenn ich meine Mutter so fordernd in ihrer Pflegebedürftigkeit erlebe.“ „Dass ich damals die Ausbildung zum Traumberuf nicht machen durfte, vergesse ich ihnen nicht.“ „Ich wollte nie so werden wie meine Mutter, es gibt Tage da halte ich sie einfach nicht mehr aus. Ich habe dann aber ein schlechtes Gewissen, weil sie ja so geduldig ist.“
Im Zusammenhang der Pflege müssen sich viele noch einmal ihren Eltern stellen mit Fragen wie: Welche Leit- und Glaubenssätze haben mich geprägt, welche Werte habe ich übernommen, was verdanke ich ihnen, was ist offen geblieben, was kann ich ihnen nicht verzeihen, was ist noch zu klären?
Die persönliche Elterngeschichte
Die Eltern stellen einen wichtigen Part unseres Lebens dar: Urvertrauen, emotionale Geborgenheit, die Art und Weise wie wir Beziehung gestalten und leben, welche Werte unser Leben bestimmen, was uns interessiert und wofür wir leben, das alles hat mit unserer Erziehung, mit unseren Eltern zu tun, sie haben die Basis gelegt, sie sind ein archetypischer Teil unserer Persönlichkeit. Von ihnen haben wir viele unserer Ressourcen, aber auch den einen oder anderen schweren Rucksack mit ungelösten Problemen übernommen, der eigentlich nicht uns gehört und der unter Umständen von Generation zu Generation weitergereicht wird.
Die Würdigung von Vater und Mutter wird in der Lesung mit langem Leben und Segen, mit dem Gelingen des Lebens in Verbindung gesetzt. Das heißt: Nur wer um seine Wurzeln weiß, wer sich der Ressourcen bedient, die er von seinen Eltern erhalten hat, wer sich mit seiner Elterngeschichte aussöhnt, hat Zugang zu einem geglückten Leben. Die Pflegesituation, die die Kinder oft noch einmal auf besondere Weise ihren Eltern näher bringt, kann eine Chance sein, manches zu klären, Konflikte endlich auszutragen, die Rucksäcke, die den Eltern gehören, zurückzugeben und vielleicht den oft langen inneren Kampf gegen die Eltern zu beenden. „Ich will nicht so werden wie sie“, ist die beste Ansage, in die Wiederholung zu gehen, die alten ungelösten Geschichten weiterzutragen und sie vielleicht an die eigenen Kinder wieder weiterzugeben. Es kann gut sein, sich hierfür Hilfe durch eine Beratung zu holen.
Grenzen ziehen
Würdigung des Vaters der anfangs zitierten Dame heißt dann: ihm zwar die notwendige Unterstützung und Betreuung zu geben (was sie ja im Prinzip gerne tut), aber sich nicht ständig neu kränken zu lassen, sich nicht zum Spielball überzogener Wünsche des Vaters zu machen, ihm nicht die Frau zu ersetzen und ihm gleichzeitig Unterhalterin und Zeitvertreib zu sein, sondern ihm die Verantwortung für sein Leben (zu dem die Trauer um seine Frau, der Verlust mancher Fähigkeiten, die Angst vor dem Sterben und manch anderes gehört) zurückzugeben und klare Grenzen zu ziehen – es braucht auch das NEIN.
Würdigung der Mutter könnte für die zweite Dame heißen: über die Gefühle zu reden, der Mutter mitzuteilen wie es ihr geht. Sie muss ihr sagen, dass sie den Platz des Vaters nicht einnehmen kann, dass sie nicht die Verantwortung für ihr Glück übernehmen kann und dass die erste Verantwortlichkeit ihrer eigenen Familie gilt.
Vielfältige Unterstützung
Betreuung und Pflege stellen eine große Herausforderung für Familien- und Beziehungssysteme dar. Sie bringen aber auch viele bereichernde und positive Erfahrungen, wenn es gelingt die Betreuungsbeziehung zu klären, wenn die pflegenden Angehörigen mit ihren Kräften haushalten, wenn sie für genug Erholungszeiten sorgen, wenn sie auch bereit sind, sich Hilfe zu holen und Teile der Pflege abzugeben, und wenn sie die notwendige Unterstützung erhalten. Hier beginnt der gesellschaftliche Auftrag: Pflegende Angehörige auf vielfältige Weise zu unterstützen (Ersatzpflege, finanzielle Absicherung, Beratung…) und zu begleiten. Sie haben sich große Wertschätzung verdient, realisieren sie doch in großem Ausmaß die Botschaft der Lesung.
80% der Menschen, die Betreuung und Pflege brauchen, erhalten diese im familiären Umfeld und zu 80% sind es die Frauen die diese herausfordernde Arbeit leisten, auch angesichts der Tatsache, dass die durchschnittliche Pflegedauer immer länger wird (zur Zeit bei etwa sieben Jahren) und dass die Pflege aufgrund zunehmender Demenzerkrankungen schwieriger wird.
Autor: Mag. Martin Eilmannsberger, Psychosoziale Beratung an der Servicestelle für pflegende Angehörige der Caritas Linz.