Die derzeitige Organisationsform von Wirtschaft und Gesellschaft weltweit und der Individualismus, der flächendeckend propagiert wird, fördern das Ideal der Tischgemeinschaft nicht. Der Großteil der Menschen ist der wirklichen Situation der Erde entfremdet. Die gemeinsamen Fragen um die Zukunft der Menschheit, der knappen natürlichen Ressourcen und des tragischen Schicksals, das Abermillionen Menschen droht, werden kaum diskutiert. Die Menschen leben in der süßen Illusion, dass die Erde in ihrer grenzenlosen Großzügigkeit fortfahren wird und dass wir ohne Ende auf dem bisherigen Weg weitermachen und von Jahr zu Jahr größere Wachstumsraten für Güter und Dienstleistungen erzielen können.
Die Analytiker der globalen Situation führen uns jedoch ein dramatisches Bild vor Augen. Wir befinden uns vor einem kritischen Wendepunkt der Erdgeschichte, in einer Phase, in der die Menschheit über ihre Zukunft entscheiden muss. Die Grundlagen der globalen Sicherheit sind in Gefahr; diese Tendenzen sind gefährlich, aber nicht unausweichlich. Entweder bilden wir eine weltweite Partnerschaft, um für die Erde und füreinander zu sorgen, oder wir riskieren unsere eigene Vernichtung und die der gesamten Vielfalt des Lebens. Unsere ökologischen, wirtschaftlichen, politischen, sozialen und spirituellen Herausforderungen sind eng miteinander verbunden, und gemeinsam können wir umfassende Lösungen finden.
Um ein solches Bündnis der universalen Fürsorge zu schaffen, ist ein anderes Paradigma dringend erforderlich, das der aktuellen Krisensituation und der planetarischen Phase der Menschheit und der Geschichte Gaias selbst besser entspricht.
Die Probleme sind so tiefgreifend und umfassend, dass wir nicht davon ausgehen, dass eine Lösung bloß technischer, politischer oder sozialer Natur möglich ist. Es bedarf eines Zusammenschlusses von Menschen, Gruppen und Gesellschaften, in deren Zentrum einige Werte und Handlungsprinzipien stehen, die unabdingbar notwendig für den Aufbau einer neuen Weltordnung sind. Wir wollen einige davon benennen:
An erster Stelle von allen steht die Fürsorge für das Erbe, das wir vom immensen Prozess der Evolution des Universums, des Lebens und der Gattung Mensch erhalten haben.
An zweiter Stelle stehen der Respekt und die Ehrfurcht vor jeder Art von Andersheit, angefangen von der Erde über die Ökosysteme bis hin zu jedem Wesen der Natur.
Drittens ist die unbedingte Zusammenarbeit aller mit allen zu nennen, denn wir sind voneinander abhängig und haben ein gemeinsames Schicksal.
Das vierte Prinzip ist die gesellschaftliche Gerechtigkeit, die die Unterschiede ausgleicht, die Hierarchien abflacht und dafür sorgt, dass sie nicht in Ungleichheit ausarten.
Das fünfte ist die Solidarität und das Mitleid ohne Grenzen mit allen Lebewesen, die leiden, vor allem mit den am meisten bedrohten und schwächsten.
Das sechste Prinzip ist das der universalen Verantwortung für die Zukunft des Lebens, der Ökosysteme, die das Überleben des Menschen sichern, und schließlich des Planeten Erde.
An siebter Stelle steht das rechte Maß bei allem Tun. das alle betrifft, auch wenn wir einen kulturellen Hintergrund haben, der von exzessiver Übertreibung und von der Schaffung vermeidbarer Ungleichheiten geprägt ist.
Schließlich geht es um die Selbstbeherrschung unseres Drangs zu erobern, zu beherrschen und materielle Güter anzuhäufen, damit alle das zum Leben Ausreichende haben können und sich als Söhne und Töchter der Erde und Mitglieder der einen Menschheitsfamilie empfinden können.
Die Wirtschaft kann sich nicht völlig von der Gesellschaft ablösen und sich den gesellschaftlichen und politi schen Kontrollinstanzen entziehen, denn das zieht als Konsequenz die Zerstörung der Idee der Gesellschaft und des Gemeinwohls selbst nach sich. In der Tat hat sich die Wirtschaft polarisiert: Einerseits produziert sie Reichtum für einige wenige, auf der anderen Seite erzeugt sie Vera' mung und Ausgrenzung vieler. Das anzustrebende Ideal ist eine Wirtschaft, die das produziert, was für alle Menschen und die übrigen Lebewesen aus der gesamten Kette des Lebens reicht und angemessen ist.
Die Politik darf sich nicht darauf beschränken, die nationalen Interessen zu organisieren, sie ist vielmehr dazu verpflichtet, ein Regierungshandeln für die Menschheit anzustreben, damit die weltweiten Interessen gemeinsam verfolgt werden. Die Ethik muss von Fürsorge, Verantwortlichkeit, Mitleid und Engagement für das Leben ge prägt sein.
Die Spiritualität muss kosmisch geprägt sein und uns in die Lage versetzen, dass wir "in Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Seins, in Dankbarkeit für das Geschenk der Lebens und in Bescheidenheit hinsichtlich des Platzes der Menschen in der Natur leben" (Erdcharta 2001, 8).
Die Herausforderung, vor der wir stehen, scheint folgende zu sein: den Übergang von einer Industriegesellschaft zu einer Gesellschaft der Förderung allen Lebens zu schaffen.
Letztlich geht es darum, den Frieden zu finden, den die Erdcharta treffend folgendermaßen definiert: "... die Gesamtheit dessen, das geschaffen wird durch rechte Beziehungen zu sich selbst, zu anderen Personen, anderen Kulturen, anderen Lebewesen, der Erde und dem größeren Ganzen, zu dem alles gehört" (Erdcharta 2001, 15).
Dies sind die ethischen und praktischen Voraussetzungen dafür, einerseits das herrschende Paradigma zu kritisieren und andererseits ein neues Paradigma zu schaffen. Natürlich bedarf es technischer, politischer und kultureller Vermittlungen, die das ermöglichen. Doch diese werden schwerlich Gutes bewirken, wenn sie nicht im Lichte dieser Leitideen entworfen werden.
Eine unmittelbare und kurzfristig in die Praxis umzusetzende Voraussetzung ist ein neues Konsummuster. Die herrschende Gesellschaft ist vom Konsumismus geprägt. Sie stellt den möglichst unbegrenzten Konsum in den Mittelpunkt. Er ist das Ziel der Gesellschaft selbst und des Einzelnen. Man konsumiert nicht nur das Nötige, das, was gerechtfertigt ist, sondern das Überflüssige, das, was fragwürdig ist. Dieser Konsum ist nur deshalb möglich, weil die Wirtschaftspolitik, die für die Produktion der überflüssigen Güter sorgt, ständig unterstützt, gefördert und gerechtfertigt wird.
Da es sich um Überflüssiges handelt, greift man auf die Propagandatechniken, auf das Marketing und auf die Überredung zurück, um die Menschen dazu zu bringen, zu konsumieren und ihnen einzureden, das Überflüssige sei notwendig.
Grundlegend für diese Art von Marketing ist es, bei den Konsumenten eine entsprechende Grundhaltung zu erzeugen. Das geht so weit, dass in ihnen eine konsumistisehe Ethik und das zwingende Bedürfnis zu konsumieren ausgebildet wird. Immer mehr falsche Bedürfnisse werden geweckt, und für deren Befriedigung wird das Räderwerk der Produktion und Verteilung in Gang gesetzt. Da die Bedürfnisse grenzenlos sind, tendiert auch die Produktion dazu, grenzenlos zu werden. So entsteht eine Gesellschaft, wie sie schon Karl Marx entlarvt hat: vom Warenfetischismus geprägt, vollgestopft mit Überflüssigem, voller Shoppings, die wahre Heiligtümer des Konsums darstellen, mit Altären voller attraktiver Götzenbilder, aber eben Götzenbilder, eine unbefriedigte Gesellschaft, weil nichts sie satt machen kann. Deshalb wächst der Konsum immer mehr und immer nervöser, ohne dass wir wissen, wie lange die Erde diese Ausbeutung ihrer Ressourcen noch aushält.
Diese perverse Logik bedeutet Stress für die Natur, deren knappe Ressourcen sich erschöpfen, sie entfremdet die Menschen, die glauben, das Glück und den Lebenssinn im ständigen Konsum materieller Güter zu finden und nicht in anderen Dimensionen des Lebens, die eher mit spirituellen Gütern wie Solidarität, Freundschaft, selbstloser Liebe, Kunst, Musik, Fähigkeit zum Zusammenleben, Toleranz und Vergebung, kontemplativer Betrachtung des Universums und des Mysteriums in allen Dingen zu tun haben. Diese Dimensionen wären imstande, die Frustration zu überwinden und ein Gefühl der Fülle des Lebens zu schaffen.
Aus: Leonardo Boff, Tugenden für eine bessere Welt. Publik-Forum Edition, Butzon & Berker Verlag Kevelaer 2009.