Wir leben in einer vielfach bedrohten Welt
Vor wenigen Tagen wurden wir an die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki vor 70 Jahren erinnert. Der 6. August 1945 markiert den Beginn der atomaren Aufrüstungsspirale. Und obwohl der Ruf "Nie wieder!" einhellig ertönt, haben die Staaten, die über Atomwaffen verfügen, das vielfache Potential, die ganze Erde zu vernichten. Trotz Abrüstungsverträgen und -appellen drängen neue Staaten in den Kreis derer, die mit Atomwaffen den Rest der Welt erpressen können.
Doch der Einsatz von Atomwaffen ist nicht die einzige Bedrohung der gegenwärtigen Menschheit. Wohin der Klimawandel uns noch führen wird, können wir nicht einmal erahnen. Ein viel zu heißer Sommer ist vermutlich nur ein erster Vorgeschmack des Kommenden.
Ideologische, religiöse und nationalistische Auseinandersetzungen vertreiben Millionen von Menschen aus ihren Heimatländern und hinterlassen verbrannte Erde.
Bisher unvorstellbare Wanderbewegungen aus einem armen Süden in einen reicheren Norden bedrohen unsere politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systeme.
Wissenschaft und Forschung ermöglichen Eingriffe in die Lebensgrundlagen, die in neuer Weise das Leben auf diesem Planeten zerstören könnten.
Der rettende Gott
Ich zähle all das auf, nicht um Angst zu schüren, sondern um bewusst zu machen, dass wir keineswegs in einer heilen Welt leben. Das apokalyptische Bild der Bedrohung, das uns in der Lesung aus dem Buch der Offenbarungen des Johannes vor Augen geführt worden ist, ist zwar schon zweitausend Jahre alt, aber aktueller denn je.
Die Frage ist: Wer ist mit dieser Frau und wer ist mit dem Kind, das sie gebären soll, gemeint? Da diese Lesung vornehmlich an Marienfesten gelesen wird, deuten wir sie vorschnell auf Maria. Diese Bilder und Texte aber kursierten schon vor der christlichen Marienverehrung in Kreisen, die vom Gedankengut der Apokalypse fasziniert waren, und wurden vermutlich erst danach auf Maria hin gedeutet.
In der Frau, die von dem siebenköpfigen Drachen bedroht wird, können wir zunächst einmal die von vielen Gefahren in ihrer Existenz bedrohte Menschheit sehen. Die sieben Köpfe verkörpern die vielen Gesichter der Bedrohung der Menschheit. Im Kind, das diese Frau gebiert, fließen die Messiashoffnungen der Menschheit zusammen. Die Botschaft, welche diese Bilder vermitteln wollen, ist jedoch trotz aller Angst, die sie auslösen, eine positive: Gott entrückt das Messiaskind zu seinem Thron und bringt die bedrohte Frau an einen sicheren Ort in der Wüste. Darin kommt die Hoffnung zum Ausdruck, dass Gott die Menschheit aus den verschiedenen Bedrohungsszenarien erretten wird.
Vollendung mit Leib und Seele
Das Evangelium erzählt von der Begegnung der beiden schwangeren Frauen Maria und Elisabeth. Elisabeth, die Mutter Johannes' des Täufers, erkennt in Maria die Mutter des ersehnten Messias und preist sie selig. Das erhoffte Eingreifen Gottes ist in der Geburt Jesu aus Maria wahr geworden. An ihr und durch sie ist die Errettung der Welt und die Erlösung der Menschheit Wirklichkeit geworden.
Heute feiern wir die Aufnahme der Gottesmutter Maria mit Leib und Seele in den Himmel. Darin kommt zum Ausdruck, dass Gott die begonnene Errettung der Welt vollendet. Maria geht als ganzer Mensch, mit Leib und Seele, in die vollendete Welt Gottes ein; nicht nur irgendwie geistig oder im übertragenen Sinn. Der Glaube der Kirche behauptet, dass die Rettung der Menschheit ganz und vollständig geschehen wird. Maria hat die Vollendung erreicht, die auch uns erwartet.
Das gibt uns eine zweifache Hoffnung. Der Kampf mit dem Drachen, den wir gegenwärtig auf verschiedenen Ebenen ganz real erleben, ist nicht aussichtslos. Allerdings wird die Menschheit diesen Kampf nicht aus eigener Kraft auf sich allein gestellt gewinnen. Gott kämpft auf unserer Seite, weil ihm seine Schöpfung nicht gleichgültig ist. Darauf dürfen wir vertrauen. Darum kann auch uns die Schöpfung nicht gleichgültig sein.
Das Zweite: Die Errettung und die Vollendung der Schöpfung haben auch eine leibhafte Seite. Es geht nicht nur um einen geistigen Sieg. Die leibhafte und körperliche Realität der Schöpfung hat auch für unsere Zukunft Bedeutung. Auch wenn wir uns eine "Auferstehung des Fleisches" (noch) nicht vorstellen können, dürfen wir die leibhafte Basis unseres Lebens nicht gering schätzen. "Verherrlicht Gott in eurem Leib!" (1 Kor 6,20) ruft Paulus den Christen in Korinth zu; denn er ist "Tempel des heiligen Geistes". Der Geist Gottes wohnt in unserer leibhaften und materiellen Welt. Darum wird Gott sie retten und vollenden.