Drei Anläufe für eine Geschichte
Manchmal braucht man drei Anläufe. Drei Anläufe für eine Geschichte. Ich schaue mal hier hin, mal da hin. Manchmal reibe ich mir auch verwundert die Augen. Das kann doch gar nicht sein! Dann muss ich eben noch einmal schauen. Aller guten Dinge sind drei!
Erster Anlauf
Erster Anlauf: Lichtscheues Gesindel! Da machen die sich doch tatsächlich die Nacht zu Nutze, kommen heimlich und verschwinden so unsichtbar wie sie gekommen sind. Am Morgen war auch noch nichts zu sehen, am Tag danach auch nichts - aber dann ging die Saat auf. Erst ganz zart, dann immer mutiger und verwegener.
Jesus erzählt von einem Feind, der sein Unwesen treibt und Unkraut sät. Aber das hört sich bescheidener an, als es ist: dieses Unkraut wird genauso aussehen wie das gute Getreide, aber die ganze Ernte versauen. Wirtschaftlich ein Fiasko! Der Bauer kann einpacken. Zur Vorgeschichte kann ich nicht viel sagen. Warum Feind, warum Unkraut - keine Ahnung.
Ich weiß nur, dass sich diese Geschichte wiederholt. Sie braucht dafür nicht einmal eine Nacht. Es genügt eine geheime Sitzung. Ein gemeinsames Schweigen. Da werden z.B. Waffenlieferungen ausgehandelt. Panzer für Potentaten. Flugzeuge für Diktatoren. Eine gute Saat ist das nicht. Geht sie auf, sterben Menschen. Werden Menschen geopfert. Werden Hoffnungen zunichte gemacht. In der Zeitung ist zu lesen, was das für ein gutes Geschäft ist. Aber es ist ein Geschäft, das nur in der Nacht gedeiht. Wobei Nacht hier keine Tageszeit, eher einen Abgrund markiert. "Während nun die Leute nichts ahnten, kamen die Herren in dunklen Anzügen und verkauften den Tod - dann gingen sie wieder weg." Die Protokolle bekommen wir nicht zu lesen. Nur die Börsenkurse. Sind ja nur Zahlen.
Zweiter Anlauf
Aber dann sehen wir die Saat aufgehen. Jesus erzählt davon. Wir hören von den Knechten, die aufgeregt zu ihrem Chef laufen, um ihn brühwarm Entdeckungen, Beobachtungen und ihr Entsetzen zu schildern: Das Feld ist verseucht, so weit das Auge reicht - durchsetzt. So durchsetzt, dass nicht einmal mehr zu unterscheiden ist, was gut und was schlecht ist. Sie, die doch Tag für Tag auf dem Feld sind, sehen, was sich entwickelt und doch gleichzeitig aus dem Ruder läuft. Sie wollen sich sogar der mühevollen, schier ausweglosen Aufgabe stellen, dem Unkraut den Garaus zu machen. Ob sie wissen, was sie vorschlagen? Aber sie können nicht mitansehen, was sich so tut. Sie verstehen auch nicht: "Woher kommt dann das Unkraut?" Sie reden sich die Köpfe heiß. Sie denken auch an sich: Ist die Ernte verloren und nicht mehr zu retten, steht ihre Zukunft auf dem Spiel. Sie haben nicht viel - aber das lassen sie sich nicht nehmen. Ihre eigene Zukunft steht auf dem Spiel. Aber Jesus erzählt die Geschichte - merkwürdigerweise - leidenschaftslos, ohne Erregung, nicht einmal Enttäuschung ist der Stimme anzumerken. Fast hört man ihn seufzen: Es ist eben so. Ich trau' meinen Ohren nicht. Noch perfekter kann doch der Triumpf des Feindes nicht sein!
Aber Sie haben schon gemerkt, dass ich in die Köpfe und Herzen der Knechte schlüpfe. Sie beobachten sehr genau, was geschieht, sie sehen unheilvolle Entwicklungen sich verselbständigen - und sie fragen nach. Kritisch. Engagiert. Sie verstehen nicht - nein, sie wollen auch nicht verstehen. Weil sie sich nicht damit zufrieden geben, wie Leben zunichte gemacht wird. Wie Menschen sprachlos werden. Wie sie sich in Schweigen flüchten.
Ich höre Jesus sagen: Das hat ein Feind von mir getan. So lakonisch der Satz ist - jetzt ist der der Gegner klar, er hat den Schutz der Nacht verloren, die Fährte ist aufgenommen.
Ich denke an Journalisten, an Abgeordnete, an Anwälte und Richter, an Schriftsteller - und an so manchen einfachen Menschen in meiner Umgebung ohne eine große Rolle: es ist nicht schwer, die Wahrheit zu sagen, es ist auch nicht unmöglich, sie zu finden. Dass es ohne Auseinandersetzung, ohne Gespräch, ohne offenen Blick nicht geht, wird uns nicht einschüchtern. Die immer wieder beschworene Komplexität muss nicht dazu herhalten, Konflikten aus dem Weg zu gehen, unheilvolle Situationen nicht zu sehen - und die Dinge laufen zu lassen. Manchmal erzählen mir Menschen Geschichten, in denen mutige Figuren auferstehen - im schönsten Sinn des Wortes.
Ein bizarres Bild: Unkraut wird gesät, Unkraut wächst. Das Böse wird gesät, das Böse wächst. Das Schweigen wird gesät, das Schweigen wächst. Aber: es wird entdeckt. Es erblickt das Licht der Welt. Längst sind auch die Schatten gewichen. Jetzt treten wir aus dem Dunkel heraus. Es ist - Tag.
Dritter Anlauf
Verzeihen Sie: bei der leidenschaftlichen Art der Knechte brauche ich jetzt die Ruhe und Gelassenheit des Geschichtenerzählers Jesus. Er hat den Knechten - sagen wir es einmal so - ein Denkmal gesetzt. Ihnen - nicht den großen Gestalten der Geschichte, den Möchtegern-Herren der Welt. Die Knechte können sich heute freuen, ja, sie können stolz auf sich sein. Sie sind geadelt. Endlich!
Aber werden sie das Böse ausrotten können? Die Frage kann nicht einfacher, auch nicht leiser gestellt werden. Und die Antwort ist einerseits erschreckend nüchtern, andererseits aber auch ungeheuer befreiend.
Nüchtern ist die Antwort, weil jeder Versuch, das Böse auszurotten, nur neues Böses schafft. Das Böse wächst auch sich heraus, wuchert, überwuchert alles. Auch das Gute, gerade das Gute. Ich fange erst gar nicht an, Beispiele aufzuzählen - wir würden nie fertig. Darf ich nur daran erinnern, wie unheilvoll es ist, wenn Menschen andere für "böse" erklären und sich eben für "gut"? So mancher trat als Heilbringer an - und verwandelte die Welt in Krematorien, Schlachtfelder und Ruinen. Hitler, Stalin, Mao Tsetung, Pol Pot ... Die Versuchung, die Welt aufzuteilen, ist bis in unsere Tage geblieben. Immer, wenn schwarz-weiß gezeichnet wird, droht Unheil.
Darum muss die Antwort Jesu so nüchtern sein: Nein! Sonst reißt ihr zusammen mit dem Unkraut auch den Weizen aus.
Diese Gelassenheit ist befreiend. Sie gewährt vor allem der Barmherzigkeit Raum - und schenkt uns einen weiten Blick. Auf Jesus. Ihm können wir das erste Wort zutrauen und eben auch das letzte. Wir sind davon entlastet, den Bösen den Garaus zu machen, wir sind auch davon entlastet, die Verantwortung zu übernehmen für ein Urteil, das wir nicht zu überschauen vermögen. Der, der die Herzen ansieht, schaut hinter die Kulissen und liest zwischen den Zeilen.
Wenn uns schon nicht die Ernte überlassen wird: Wehr- und hilflos sind wir dem Bösen nicht ausgeliefert. Wir können das Böse auch nicht laufen lassen. Wir können uns auch nicht heraushalten, wegstehlen, zur Tagesordnung übergehen. An dieser Stelle macht uns der Geschichtenerzählen Jesus mit den Knechten bekannt. Er setzt ihnen nicht nur ein Denkmal, er weiß auch viel von ihnen zu erzählen.
Um noch einmal auf den Waffenhandel zurückzukommen: Wir werden über die Feindbilder reden müssen, die unter uns bedient und befördert werden. Wir werden über Lobbys reden müssen, die ihre Geschäfte lautlos abwickeln (wollen). Wir werden über gute Geschäfte mit dem Tod reden müssen. Es könnte sonst sein, dass vor unseren Augen, bei hellem Tageslicht, eine Saat gesät wird, die wir nicht ernten wollen. Unsere größten Hoffnungen, Worte und Überlieferungen klagen uns an. Die Knechte im Gleichnis fragen verwundert: "Herr, hast du nicht guten Weizen auf deinen Acker gesät? Woher kommt dann das Unkraut?" Entschuldigung, wir sehen, wie Unkraut gesät wird.
Es kommt alles ans Licht!
Manchmal brauche ich mehrere Anläufe. Ich schaue mal hier hin, mal da hin. Manchmal reibe ich mir auch verwundert die Augen. Das kann doch gar nicht sein! Dann muss ich eben etwas sagen. Die Wahrheit.
Am Ende kommt alles ans Licht! Die gute Saat. Und die schlechte!
Und der Friede Gottes,
der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.