Der Blick auf Maria hat dichter und Mythenerzähler inspiriert. Viele Texte zeugen davon, dass Menschen zu Maria aufgeschaut haben und aus ihrem Schicksal, das mit ihrer Aufnahme in den Himmel sein Ziel gefunden hat, Trost und Hoffnung in einer bis aufs Äußerste bedrohten Welt gesehen haben.
Blume des Feldes und Lilie in den Tälern
„Geh‘ aus meiner Herz und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit an deines Gottes Gaben; schau an der schönen Gärten Zier und siehe, wie sie mir und dir sich ausgeschmücket haben, sich ausgeschmücket haben“ – so Paul Gerhardt 1653. Die Wunden des 30-jährigen Krieges sind noch nicht verheilt, die Verwüstungen nicht überwunden. Heute, am 15. August, mitten im Sommer, sehen wir reife Felder, ein üppiges Grün, Blüten, eine schöner als die andere. In Zeiten des beängstigenden Klimawandels entdecken wir aber auch neu, wie bedroht die Welt ist, wie vergänglich ihre Schönheit, wie sorglos unser Umgang.
In einem hebräischen Lied, das wir in der Bibel finden, im „Hohen Lied“ wird von einer „Blume des Feldes“ und einer „Lilie in den Tälern“ gesungen. Im Mittelalter fand man, dass dieses schöne Bild doch genau auf die Jungfrau Maria passt – Blume des Feldes und Lilie in den Tälern. In einer der „goldenen Legenden“, die in der „legenda aurea“ im 13. Jahrhundert gesammelt sind, wird erzählt, dass dem Leichnam Mariens bei ihrer Beerdigung eine Palme vorausgetragen wurde. Als Christus selbst, drei Tage nach dem Tod seiner Mutter erschien, um sie auf ihrem Weg in den Himmel zu begleiten, breitet sich ein unaussprechlich schöner Duft aus. Es riecht nach Leben, nicht nach Tod. Eine alte wundersame Geschichte, volkstümlich, aber auch zärtlich und liebevoll. Dass sie nicht in der Bibel steht, mag man ihr nicht ankreiden. Jesus holt seine Mutter zu sich. Das steht am Anfang eines Festes, das wir als „Aufnahme Mariens“ in den Himmel heute feiern.
Der Drache steht vor der Frau
In der ersten Lesung, die wir hörten, heißt es:
Der Tempel Gottes im Himmel wurde geöffnet
und in seinem Tempel
wurde die Lade seines Bundes sichtbar: (Doppelpunkt)
Dann erschien ein großes Zeichen am Himmel:
eine Frau, mit der Sonne bekleidet;
der Mond war unter ihren Füßen
und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt.
Sie war schwanger
und schrie vor Schmerz in ihren Geburtswehen.
Ein anderes Zeichen erschien am Himmel
und siehe, ein Drache, groß und feuerrot,
mit sieben Köpfen und zehn Hörnern
und mit sieben Diademen auf seinen Köpfen.
Sein Schwanz fegte ein Drittel der Sterne vom Himmel
und warf sie auf die Erde herab.
Der Drache stand vor der Frau, die gebären sollte;
er wollte ihr Kind verschlingen,
sobald es geboren war.
Wir sehen eine Frau, mit der Sonne bekleidet, den Mond unter ihren Füßen. Ihr Kopf ist geschmückt mit einem Kranz, einer Krone mit 12 Sternen. Ein hoheitsvolles Bild. Immerhin: Sonne und Mond! Künstler haben nicht gerastet und geruht, die schönsten Darstellungen zu schaffen. Ein Bild für Maria? Jedenfalls – das lässt sich dann nicht so gut darstellen – ist die Frau schwanger. Mehr: die Wehen haben eingesetzt. Wir hören die Schreie! Die „schönen“ Madonnen sind schlank und rank, fein gekleidet, gelegentlich im bäuerlichen Umfeld auch ein wenig fülliger. Aber sie haben keinen dicken Bauch, keine Wehen.
Dann sehen wir einen Drachen, groß, feuerrot – sozusagen höllisch – mit sieben Köpfen, zehn Hörnern und einem Schwanz, der ein Drittel der Sterne vom Himmel fegt. Was für ein Untier! Es macht sogar die Mythen klein. Dieses Großmaul stellt sich vor die Frau – und will ihr Kind verschlingen, sobald es geboren ist. Da lauert es! Ist denn die Frau jetzt ganz alleine?
Noch unheimlicher und gewaltiger lässt sich eine Bedrohung nicht darstellen. Die Bilder platzen förmlich. Die kleinen Gemeinden in Kleinasien, die als erste angesprochen werden, sehen jetzt nicht nur in den Himmel, sie fühlen sich in dieser Szene verstanden – und in ihr auch aufgehoben. Wie ist das, einem Ungeheuer zu begegnen, das sich breit und schnaubend einfach vor einen setzt, um das Kind zu fressen? Das Kind? Ein Kind. Einen Menschen. Viele Menschen?
Wie ist das, wenn nicht einmal der nächtliche Himmel noch glänzen kann, wenn die Löcher im Land immer größer werden, wenn die Erde im Chaos versinkt? Es gibt schrecklich viele Geschichten dieser Art. Dass Menschen aussehen können wie Drachen, Drachen Menschen sind – ist das eine Offenbarung? Im Leben Marias haben Menschen die Bedrohung, die Angst, die Einsamkeit sehen können, aber auch den Sieg! Wenn sie Maria malten, wenn sie Maria sahen, malten und sahen sie ihr eigenes Leben, ihre eigene Hoffnung.
Meine Seele preist die Größe des Herrn
Maria preist die Größe Gottes, sie macht ihn groß. Ihn groß zu machen, ihn zu besingen, macht den Himmel aus. Da wird der Himmel aufgenommen, da nimmt der Himmel auf.
„Denn der Mächtige hat Großes an mir getan
und sein Name ist heilig.
Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht
über alle, die ihn fürchten.
Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten:
Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind;
er stürzt die Mächtigen vom Thron
und erhöht die Niedrigen.
Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben
und lässt die Reichen leer ausgehen.
Er nimmt sich seines Knechtes Israel an
und denkt an sein Erbarmen,
das er unsern Vätern verheißen hat,
Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.“
Es ist das Magnificat! Es ist ein umstürzlerisches Lied, das die Welt nicht so lässt wie sie ist. Karl Marx hat es mit großen Augen gelesen. Gott zerstreut die Hochmütigen, er stürzt die Mächtigen vom Thron, er erhöht die Niedrigen. Ein Satz ist gewagter als der andere. Maria besingt nicht nur die neue Welt, sie sagt „ja“ dazu, Mutter zu werden, Mutter Jesu – und Mutter Gottes. Jetzt! Anders kann die Welt nicht neu werden. Der Mächtige hat Großes an mir getan, singt sie. Und wird Teil seiner Geschichte mit uns Menschen. Gott wird Mensch, einer von uns. Klein, bedroht, hilflos. Die Größe Gottes ist seine Barmherzigkeit, seine Liebe. Nur darin mag er allmächtig sein, nur darin kann er allgegenwärtig sein, nur darin wird er allwissend sein. Die großen Worte, die großen Hoffnungen werden geboren. Mit einem Kind. Und mit einer Mutter. Gott erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht, von Generation zu Generation. Wenn wir den Himmel räumlich denken, wissen wir weder, wo er beginnt noch, wo er aufhört. Wenn wir den Himmel aber da sehen, wo Maria Jesus auf dem Schoß hält, entdecken wir Gott. Er denkt an sein Erbarmen, das er unseren Vorfahren versprochen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.
Ich muss jetzt an die vielen Bilder denken, die von großen und kleinen Künstlern geschaffen wurden. Maria hält uns Jesus hin, Maria wird zu einem Thron, zum Sitz der Weisheit, Maria trägt ihren toten Sohn in ihren Armen, auf ihrem Schoß. Maria bekommt Gesichtszüge, Gesichtszüge eines Menschen von nebenan und doch gleichzeitig die Gesichtszüge Gottes von soweit weg. Barmherzigkeit braucht ein Gesicht, Liebe bekommt ein Gesicht.
Wohlriechende Kräuter
An unserem Festtag heute werden an vielen Orten auch nach altem Brauch Kräuter gesegnet. Eine kleine Erinnerung an die alte zärtliche Geschichte, die mit diesem Tag verbunden ist. Gebündelt sollen die Kräuter gegen Unheil schützen, das sich in Häusern und Ställen groß machen kann. Ein feiner Tee lässt sich mit Kräutern auch zubereiten. Und mit gesegneten Kräutern sollen auch die Spaghetti noch viel besser schmecken. Es sind symbolische Gesten, in der sich ein großes Vertrauen ausdrückt. Zeichen des Lebens in einer bedrohten Welt. Es riecht nach Leben!
Heute stellen wir uns breitbeinig vor dem Drachen auf. Du machst uns keine Angst – schaff die Sterne wieder an den Himmel! Maria wissen wir nicht nur im Himmel, wir wissen sie an unserer Seite.
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Maria Wachtler (2002)
Gastautor*in (1999)
Lorenz Walter Voith (1998)