Wer bist du, Jesus?
Der Täufer ist von Herodes gefangen genommen worden, weil er es wagte, den König zu kritisieren und zu tadeln hinsichtlich seiner Ehe mit der Frau seines Bruders. Vom Kerker aus verfolgt Johannes das öffentliche Auftreten und Wirken Jesu. Offensichtlich dürfen Freunde und Jünger des Täufers Johannes besuchen. Sie oder auch Bedienstete am Hof werden Johannes von Jesus berichtet haben.
Und nun kommt die Frage, die uns eigentlich verwundern sollte. Durch seine Jünger lässt der Täufer Jesus fragen: "Bist du es, der da kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?" Wie kommt Johannes zu dieser Frage? Hatte nicht gerade er seine Jünger auf Jesus als den Messias hingewiesen? Hatte nicht er zu Jesus gesagt, als dieser sich von ihm taufen lassen wollte: Müsste nicht ich von dir getauft werden? Außerdem hatte Johannes bei der Taufe Jesu die Stimme aus dem Himmel vernommen: Dieser ist mein geliebter Sohn.
Woher kommt die plötzliche Unsicherheit des Täufers gegenüber der Person Jesu?
Einen versteckten Hinweis sehe ich in der Antwort, die Jesus dem Täufer zukommen lässt.
Johannes, Sohn der Elisabeth und des Zacharias, einem tief gläubigen Elternpaar, steht fest in der Tradition des Alten Testaments. Er kündigt - wie es seine Aufgabe ist - die neue Heilszeit an. Diese stellt er sich vor als eine Zeit der Trennung: Trennung von Spreu und Weizen, Trennung von gut und böse, Trennung von fruchtbar und unfruchtbar. Die Axt wird geschwungen und an die Wurzeln der Bäume gelegt, die keine Früchte tragen. Umgehauen werden sie und wie die Spreu im Feuer verbrannt. Trennung, Scheidung, Beseitigung des Spröden und Dürren ist das Leitmotiv des Täufers für die neue Zeit. In radikaler Umkehr und Erneuerung wird sich das Gesunde, Kernige, Starke durchsetzen. Gerechtigkeit wird herrschen, alles Unrecht verschwinden, weil die Unvollkommenen und Sünder vom Messias hinweggefegt werden. Mit diesen Vorstellungen und Bildern im Herzen wird Jesus für den Täufer im Nachhinein zu einem Rätsel. Denn einen Draufgänger, einen Messias, der radikal säubert, schneidet und brennt, hatte sich Johannes erhofft. Und all das kann er im Wirken Jesu, dem Freund der Sünder, Zöllner, Dirnen, Armen und Verachteten nicht entdecken.
Eine andere Sicht des Messias
Seinem Verhalten nach kann Jesus wohl gut verstehen, dass Johannes mit seiner Sicht ihn, Jesus, nicht mehr recht einzuordnen weiß. Liebevoll kommt er ihm entgegen, indem er jeden Vorwurf unterlässt und den Täufer stattdessen an die Voraussagen des Propheten Jesaia zur kommenden Heilszeit erinnert. Dieser hatte verkündet: Dann werden die Augen der Blinden geöffnet, auch die Ohren der Tauben werden hören. Der Lahme wird springen wie ein Hirsch, die Zunge des Stummen jauchzen (Jes 35,5f). Mit diesem Hinweis auf den Propheten Jesaia will Jesus dem Täufer und allen, die denken wie er, eine Brücke bauen. Alle sollen begreifen, dass Jesu Wirken Heilswirken ist - rettendes, aufrichtendes und nicht richtendes, verurteilendes Tun.
Ob Johannes der Täufer seine Sicht und seine Erwartungen an den Messias korrigierte, wird uns nicht berichtet.
Dem Evangelisten Matthäus kommt für seine Verkündigung die Frage des Täufers äußerst gelegen. Denn viele Juden dachten wie der Täufer Johannes. Ihnen ist die Botschaft Jesu von der rettenden Liebe Gottes, gerade und besonders auch gegenüber den Sündern, Zöllnern, Abgelehnten und Verkannten, ein Ärgernis. Sie sahen darin eine Aufweichung ihres Glaubens, eine Verharmlosung der Sünde, eine Unterstützung des Teufels. Sie verdächtigten Jesus, wie an mehreren Stellen der Bibel berichtet wird, er stehe mit dem Teufel im Bunde.
Heiland, nicht Rambo
Weil für den Glauben die Frage "Wer ist dieser Jesus?" von höchster Wichtigkeit ist, lässt Matthäus in der Antwort Jesu an den Täufer für sich selbst Zeugnis ablegen. Einfühlsam geht Jesus auf den Täufer und die Menschen um ihn ein. Mit dem Hinweis auf die Schriftworte des Propheten Jesaia weist er sich aus. Ja, er, Jesus, ist der von den Propheten Vorhergesagte. Aber er kommt nicht als "Rambo" mit der Axt in der Hand oder als Richter, nicht um zu verbrennen, auszurotten oder zu vernichten, sondern als Heiland. Darum
- geht er den Verlorenen und Verirrten nach,
- schenkt er den Sündern Vergebung,
- richtet er auf und tröstet,
- heilt er, was verwundet ist,
- erweckt er Totes zum Leben,
- verkündet er nicht nur den Juden, sondern auch den Heiden Gottes Liebe und Barmherzigkeit.
In der ganzen Art, wie Jesus sich darstellt, ist zu spüren, wie sehr er bei den Menschen um ein Umdenken in ihren Messiasvorstellungen wirbt. Niemandem macht er einen Vorwurf, für bisher falsche Ansichten oder Bilder. Diese lassen sich im ruhigen Nachdenken korrigieren. Daher befiehlt Jesus auch nicht ein Umdenken und eine Kehrtwendung auf dem Absatz. Aber wie sehr er bei allen darum wirbt, wird deutlich in seinem Satz: "Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt."
Die Frage nach dem Gottesbild
Johannes der Täufer, den Jesus als den Größten der alttestamentlichen Menschen bezeichnet, ist durch das Handeln Jesu, das so gar nicht seinen Vorstellungen entspricht, verunsichert. Johannes - einer von uns, werden wir empfinden. Denn was uns Gott gegenüber unsicher macht und manchmal sogar ins Hadern mit ihm geraten lässt, kommt ebenfalls aus dem Erleben, dass Gott uns in seinem Wirken oft unverstehbar bleibt. Wir haben das Bild von einem uns liebenden und allmächtigen Gott verinnerlicht. Wir trauen Gott zu, dass er alles kann und gehen davon aus, dass er das Gute will. Aber dann erleben wir im Alltag Dinge, die unserem Bild von Gott völlig widersprechen. Während Gute z.B. oft bitter leiden, geht es so manchem Halunken bestens und gut. Oder wir geben uns alle Mühe, strengen uns an, kämpfen mit letzter Kraft - und am Ende ist alles vergebens. Warum tritt Gott mit seiner Macht nicht auf den Plan? Müsste er nicht von sich aus vielem Einhalt gebieten und das Gute und die Guten deutlicher unterstützen! Wo bist du, Gott? Warum handelst du nicht?, lautet daher oftmals unsere Frage. Aber wir bekommen keine konkrete Antwort, die uns Gottes Verhalten verstehen und gut heißen ließe.
Im Blick auf Jesus, der dem Täufer und den Menschen damals sagt "Selig, wer an mir keinen Anstoß nimmt", höre ich Worte, die er uns sagen will: Selig seid ihr, wenn ihr das Handeln Gottes nicht nach euren Vorstellungen beurteilt und trotz des oft nicht Verstehbaren euch nicht von ihm abwendet. Selig ist, wer aus den Erfahrungen, wo er sich des Beistandes Gottes sicher und gewiss ist, an dem Glauben festhält, dass Gott trotz seines für uns oft nicht verstehbaren Handelns ein uns Liebender ist, der uns begleitet, hilft, leitet, tröstet, Kraft verleiht.
Ob wir uns auf diese Worte Jesu einlassen, muss jeder für sich entscheiden.
Gott liefert uns für die Richtigkeit seines Handelns keine Beweise. Er belässt es bei Hinweisen und traut uns zu, dass wir bei uns selbst oder anderen immer wieder bemerken, dass er, Gott,
- Augen öffnet,
- Abgestorbenes zu neuem Leben erweckt,
- uns Wege führt und in Ereignisse verwickeln lässt, die wir oft erst im Nachhinein als wertvoll und als Geschenk seiner Gnade erkennen.
Lassen wir uns diese immer wieder einmal gegebenen Hinweise genügen, um fest an Gottes heilsames Wirken in dieser Welt und an uns zu glauben, auch wenn wir aus unserer Sicht Gott zuweilen nicht verstehen.
Martin Stewen (2010)
Hans Hütter (1998)