Der Lauf der Geschichte
Um die Worte und Gedanken der Lesung aus dem Propheten Jesaja in ihrer Tiefe zu verstehen, ist es hilfreich, einen Blick in die Geschichte Israels zu werfen.
Die Babylonier waren zur Großmacht aufgestiegen und begannen, die Nachbarvölker zu unterwerfen. Dabei lenkten sie auch begehrliche Blicke auf Palästina und Israel. Ziel der Babylonier war es, möglichst viele Völker tributpflichtig zu machen. Um sich vor möglichen Aufständen der unterworfenen Völker zu schützen und sie von vornherein zu unterbinden, deportierten die Babylonier jeweils die Oberschicht eines besiegten Landes in Babylonische Kerngebiete.
Während das Nordreich Israel sehr schnell von den Babyloniern erobert werden konnte, gelang den Truppen trotz mehrerer Anläufe die Einnahme von Jerusalem zunächst nicht. Ungefähr siebzig Jahre konnte Jerusalem sich widersetzen. Dies verleitete die Juden damals zu dem Glauben, Jerusalem sei uneinnehmbar. Umso größer war ihr Entsetzen, als die Babylonier am Ende dann doch Jerusalem eroberten und völlig zerstörten – Mauern, Häuser, den Königspalast, den Tempel. Untergangsstimmung höchsten Grades breitete sich aus. Klagen und Wehgeschrei gab es nicht nur unter den Deportierten. Auch die im eigenen Land Zurückgebliebenen verließ jede Hoffnung.
Gut vierzig Jahre später eroberte der Perserkönig Kyros Babylon. Und was niemand je zu denken gewagt hatte, geschah. Kyros erlaubte den Israeliten nicht nur, in die Heimat zurückzukehren; er schickte sie regelrecht nach Hause und trug ihnen auf, Jerusalem und den Tempel wieder aufzubauen.
Endzeitgedanken
Diese Situation müssen wir uns vor Augen führen und die Schlussfolgerungen, die die Israeliten für ihren Glauben aus diesem Ereignis zogen. Sie erlebten die Rückkehr aus der Babylonischen Gefangenschaft als eine zweite Befreiung des Volkes aus Sklaverei und Unterdrückung. Der Auszug aus Ägypten hatte seinen Abschluss darin gefunden, dass man in Jerusalem Jahwe einen Tempel als Haus Gottes gebaut hatte. Von Jerusalem, wo Jahwe nun thronte, ging nach den Vorstellungen der Juden das Heil aus. Und jetzt durften sie nach der Babylonischen Gefangenschaft neu das Haus Jahwes errichten. Hoffnung und Zuversicht auf eine neue Zeit der Zuwendung und Fürsorge Gottes erfüllte die Herzen der Gläubigen.
Noch ein zweiter Gedanke bewegte die Israeliten sehr stark.
Sie hatten erlebt, dass Jahwe sich diesmal eines Heiden, des Kyros, bedient hatte, um sein Volk in die Freiheit zu führen. In vielen brach der Gedanke auf: Wir tun unserem Gott Jahwe Unrecht, wenn wir ihn nur für uns gelten lassen und lediglich als Gott Israels vereinnahmen. Ist er nicht der Gott aller Völker?
Jesaja ist ein Vertreter dieser Gedanken. Er verkündet in seinen Visionen, wie die Völker der Heiden aufbrechen und zum Tempel in Jerusalem wallfahrten, um Jahwe zu huldigen. In die Visionen des Jesaja tritt so etwas wie eine End-Zeit-Stimmung: Kriege und Gemetzel werden aufhören. Friede breitet sich über die Erde aus und wird auf Jerusalem in Strömen zufließen. Die Trauer wird ein Ende nehmen und Freude aufblühen in den Herzen der Menschen – vergleichbar dem Wachsen von frischem Gras nach ersehntem Regen. Wie Kinder sich an der Brust der Mutter geborgen fühlen, so wird sich Zufriedenheit unter den Menschen ausbreiten.
Endzeitgedanken hat es in vielen Jahrhunderten gegeben und werden gelegentlich immer neu wieder einmal beschworen. Den Visionen des Jesaja sehr nahe steht der Evangelist Johannes mit seinen Bildern, die er in seiner Apokalypse über das Himmlische Jerusalem entwirft.
Kleine Schritte
Für uns, so meine ich, wäre es wichtig, die Blicke auf Jesus und die jeweilige Gegenwart zu richten. Jesus möchte nicht, dass wir die Zeit absitzen, bis dann irgendwann einmal die goldene Endzeit hereinbricht. Er sendet uns, mit seinem Geist und seiner Kraft ausgestattet die Gegenwart zu gestalten:
- mit mütterlicher und väterlicher Liebe,
- mit Worten, die trösten und aufrichten,
- mit Wohlwollen, das wie ein Strom des Friedens überreich von uns zu den anderen fließt,
- mit dem Willen, Reichtum zu teilen und der Not der Armen nicht gleichgültig gegenüber zu stehen.
Wo uns dies gelingt, da sollen wir aufjubeln und uns freuen, selbst wenn es im Vergleich mit dem Weltgeschehen nur kleine Schritte sind, die wir zuwege bringen. In diesem Streben um das Gute und das Glück der Menschen sind wir Mitarbeiter Gottes, Boten, die von vielen erwartet werden. Jesus hat uns vorgelebt und damit gezeigt, in welchem Rahmen sich menschliches Leben bewegen und vollziehen soll.
Bauen wir mit an einer Welt, die nicht nur Leid, Trauer und Not kennt, sondern schon jetzt in immer neuen, wenn auch kleinen Schritten anstrebt, was uns am Ende einmal überreich und in Fülle geschenkt werden soll.