Ein Lebens- und Glaubensort
„Auf eine irrwitzige und völlig unvorhersehbare Weise habe ich mich in Köln unsterblich verliebt. Es war die Art von Verlieben, die einem Herzklopfen bereitet. Die Art von Verlieben, die das Blut in den Adern prickeln lässt. Die Art von Verlieben, die einen grundlos zum lächeln bringt“.
So beginnt die Autorin Lily Brett einen Artikel in der Zeit v. 25. Juli 2013. „Es war im Mai 2006. Ich war damals glücklich verheiratet, aber das tat nichts zur Sache. Mein Ehemann ist ein sehr vernünftiger Mensch. Und er glaubt von jeher an die Liebe… Ich habe mich in eine Kirche verliebt. Eine katholische Kirche. Eine Kirche namens St. Agnes.“
St. Agnes beschreibt Lily Brett als eine schlichte gotische Kirche, die für sie vor allem Wärme ausstrahlt. Eine Wärme, die dem Geist erlaubt zu schweben, sich zu erheben, zu fragen und sich herausfordern zu lassen.
Spinnerei einer leicht überdrehten Intellektuellen? - Mich hat der Artikel sehr angesprochen. Da ist eine Frau, Jahrgang 1946, sie wird im Rahmen einer Dichterlesung in dieser Kirche von ihr so angesprochen und ergriffen, dass sie von einem echten Verlieben spricht, einem Gefühl, das das Leben verändert und sich neu ausrichten lässt. Wenn es ein Kirchengebäude schafft, dass der Geist sich erlaubt zu schweben, zu fragen und sich herausfordern zu lassen, dann ist dieses Gebäude in seiner Architektur zu einem Lebens- und Glaubensort geworden.
Aufbruch ins Unbekannte
Paulus stellt uns Abraham im Hebräerbrief als Glaubenden vor. Wie glaubt Abraham?
Er hält nicht vordergründig an ein einer unumstößlichen Wahrheit fest! Abraham verkündet keine Dogmen und verteidigt sie! Er ist nicht jemand, der schon von jeher weiß was richtig und gut ist, der so fest in Gottes Willen und seinen Weisungen steht, dass diese nur noch umgesetzt werden müssen.
Vielmehr ist Abraham ein Mann, der etwas erhofft und der sich auf den Weg in ein ihm völlig unbekanntes Gebiet macht. Tatsächlich, in dem er seine Sachen zusammenpackt und loszieht, geistig und spirituell, weil er sich auf Grund der Hoffnung und Sehnsucht, die er spürt, einlässt und sich auf einen Weg macht, dessen Ziel noch ungewiss ist und das doch so viel Verheißung enthält, dass es ihn nichts mehr hält. Gott ist für Abraham die Möglichkeit, dass es gut geht. So ist er der Urgrund seines Glaubens.
Lily Brett schreibt in ihrem Artikel weiter, dass ihre Liebe nicht unproblematisch ist. „Ich bin Jüdin. Und es kommt noch schlimmer: Ich bin Atheistin.“ Vielleicht keine hundertprozentige Atheistin aber doch Atheistin. Lily Brett ist das Kind zweier Eltern, die ihre Jugendjahre in den Ghettos, Arbeitslagern und Todeslagern der Nazis überlebt haben. Ihre Mutter war 17 als sie interniert wurde. Vier Brüder, drei Schwestern, Mutter, Vater, Onkel, Tanten Cousinen und Cousins. Alle wurden umgebracht. Nach dem Krieg hatte sie keinen Verwandten mehr. Bei ihrem Vater war die Geschichte vergleichbar, seine Eltern, drei Brüder und eine Schwester ebenfalls ermordet. Sechs Monate nach Kriegsende trafen sich die Eltern wieder. Sie selber kam als erstes Kind der Überlebenden des Holocaust in bayrischen Feldafing zur Welt.
Wo ist Gott heute?
„Es gibt keinen Gott“ sagte meine Mutter in meiner Jugend immer wieder. Es gibt keinen Gott, sagte sie, wenn sie Geschirr spülte oder die Wäsche aufhängte oder sich für einen Geburtstag schick machte. Sie sagte es und stammte doch aus einer religiösen Familie. Ebenso ihr Mann.
Es wäre eine Gotteslästerung, Blasphemie angesichts des erlebten Leids einfach ungestört weiter an Gott zu glauben, in einer Zeit in der alle Hoffnung und aller Lebensmut vernichtet wurden, in einer Zeit in der Menschen, die man liebt, getötet wurden und Gott scheinbar emotionslos zuschaut oder was vielleicht noch gnädiger oder wahrscheinlicher ist, es diesen Gott nicht gibt, nicht geben kann oder darf.
Angesichts von unbeschreiblichem Leid in der Welt, auch angesichts des persönlich erlebten Leids Gott nicht anzufragen hieße ihn nicht ernst zu nehmen und aus dem eigenen Leben auszublenden.
Wo ist Gott heute wenn in Syrien, Afghanistan und Ägypten? Kinder, Frauen Männer, Soldaten sterben, die doch eigentlich leben wollten. Und wo ist Gott, wenn Menschen so krank sind, dass der Tod nahe ist, und sie doch noch so viel vorhatten, noch so viel Lebenshoffnung in ihnen steckt.
Wir können Gott nicht einfach für alles Leid in der Welt verantwortlich machen. Aber ihn zu einem unbeteiligten Dritten zu machen, geht das?
Die Sehnsucht nach einem ganz anderen
Dietrich Bohnhoeffer spricht in seiner in der Zeit des 3. Reiches entwickelten Theologie, dass wir Abschied nehmen müssen von Gott als dem „Deus ex machina“, der dann in die Welt eingreift, wenn wir als Menschen wieder Situationen geschaffen haben, die nur Leid und Elend verursachen, im kleinen und großen. Aber wie ist er dann da? Im eigenen Erleben von Gewalt und Vernichtung schreibt der gleiche Dietrich Bohnhoeffer sein bekanntes Lied: Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir... und glaubt, dass Gott stärker ist als alles Leid und Elend und dass er ihn trägt.
In uns Menschen lebt eine Sehnsucht nach dem ganz anderen, nach dem was uns und unser Leben übersteigt und das uns doch eng mit dem einen ganz anderen verbunden sein lässt, der uns Freiheit schenkt und die Hoffnung und den Glauben, dass wir selber und unser Leben Sinn haben.
Das ist das Gefühl, was die Kirche St. Agnes in Köln bei der Autorin Lilly Brett ausgelöst, eben keine intellektuelle Spinnerei, sondern den Glauben immer wieder als eine Herausforderung annehmen.
Über ihren Vater schreibt Lily Brett in diesem Zusammenhang: „Darüber muss mein siebenundneunzigjähriger Vater manchmal lachen. Aber es ist ein fröhliches Lachen. Ich vermute darin die Fröhlichkeit angesichts all dessen, was möglich ist.“
Beim nächsten Besuch meiner Schwester in Köln werde ich auch St. Agnes besuchen.