"Alle suchten ihn zu berühren, denn es ging eine Kraft von ihm aus, die alle heilte" (Lk 6, 19)
Am vorigen Sonntag wurde im Evangelium über die Heilung eines Aussätzigen berichtet (Mk 1, 40-45). Auch im heutigen Evangelium hören wir von einem Heilungswunder, diesmal an einem Gelähmten gewirkt (Mk 2, 1-12). Auch andere von Jesus vollzogene Wunder werden Sie kennen. Die Heilung eines Taubstummen beispielsweise (Mk 7,31-37) oder die Heilung eines Blinden (Mk 10,46-52). Die meisten Wunderberichte sind uns im Markusevangelium überliefert. Es wurde am frühesten niedergeschrieben, was auf den Wahrheitsgehalt dieser Wunderberichte schließen lässt.
Das biblische Verständnis von Wundern
Möglicherweise tun Sie sich schwer mit den biblischen Wunderberichten, weil im Unterschied zur Heilung eines Menschen durch die Medizin es sich in den Heilungswundern um außergewöhnliche Phänomene handelt, die auf natürliche, verstandesmäßige Weise nicht zu erklären sind. Ob bei Wundern die Gesetze der Natur durchbrochen werden, eine solche Frage kennt die Bibel nicht. Der Begriff Naturgesetzlichkeit kommt erst sehr viel später auf, vor allem seit der Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Die Erfahrungen, die Menschen in der Begegnung mit Gott, mit Jesus gemacht haben, bleiben einem rein naturwissenschaftlichen Denken verborgen.
Für glaubende Menschen sind Wunder ein Geschehen, in dem Gott heilend und befreiend wirksam wird. Israel hat dies in der Begegnung mit Jahwe erfahren. Ihm hat er sich als der "Ich bin da" erschlossen. Dass er der Emmanuel ist, der "Gott mit uns", wird ganz leibhaftig in Jesus, der Mensch gewordenen Liebe Gottes, erfahrbar. Der Name Jesus, Jeschua, bedeutet: "Gott rettet". In Jesus, der von sich sagen konnte: "Ich bin das Leben" (Joh 14, 6), hat Gott uns Menschen unwiderruflich und auf eine einzigartige Weise Heil und Leben zugesagt. Die Begegnung mit Jesus kann indes nur dann wirksam werden, wenn Menschen sich seinem heilenden und befreienden Tun öffnen. Darum konnte Jesus keine Wunder wirken, wenn er auf Unglauben stieß. So auch in Nazaret, seiner Heimatstadt. "Er konnte dort kein Wunder tun", lesen wir im Markusevangelium, "nur einigen Kranken legte er die Hände auf und heilte sie. Und er wunderte sich über ihren Unglauben" (Mk 8,5f.)
Wunder als Zeichen einer viel tieferen Heilung
Bei der Heilung eines Gelähmten, von dem das heutige Evangelium erzählt, blieb das erwartete Wunder, das Wunder der körperlichen Heilung, vorerst aus. Wenn es dann doch später geschah, war das mehr als nur eine Zugabe. Jesus wollte mit der leiblichen Heilung von Menschen ein Zeichen setzen, um kundzutun, dass er viel tiefer liegende Krankheiten zu heilen vermag. Nur deswegen, und nur deswegen wirkte er Wunder. Doch sie geschahen niemals um ihrer selbst willen. Und schon gar nicht sollten sie spektakulär wirken, weswegen Jesusden von ihm Geheilten verbot, das an ihnen Geschehene zu verbreiten. Dem von ihm geheilten Taubstummen und Aussätzigen schärfte er ein, niemandem davon zu erzählen (Mk 7,36). Doch je mehr er es ihnen verbot, umso weniger hielten sie sich daran. Der vom Aussatz Geheilte erzählte bei jeder Gelegenheit, was geschehen war. "Er verbreitete die ganze Geschichte", lesen wir bei Markus, "so dass Jesus sich in keiner Stadt mehr zeigen konnte; er hielt sich nur noch außerhalb der Städte an einsamen Orten auf. Dennoch kamen die Leute von überall her" (Mk 1, 45).
Warum hat Jesus denn nicht gewollt, dass man anderen über seine Heilungswunder berichtete? Er wollte, dass die Menschen ihn nicht nur suchten, um von ihren körperlichen Gebrechen, von ihren Krankheiten geheilt zu werden, denn damit wäre ihnen der Blick versperrt geblieben für seine messianische Sendung. Diese hat Jesus in der Synagoge von Nazaret auf programmatische Weise bekundet: Den Armen eine gute Nachricht zu bringen, die Zerschlagenen und Gefangenen in Freiheit zu setzen (vgl. Lk 4,18). Womit sich an ihm die Verheißung des Propheten Jesaja erfüllt hat: "Alle zu heilen, deren Herz zerbrochen ist"(Jes 61, 1).
Mehr als Heilung
Wie zu allen Zeiten gab es auch damals Menschen, die über ungewöhnliche Heilungskräfte verfügten. Doch den ganzen Menschen zu heilen, bis in die Tiefe seines Herzens, vor allem ihn von krank machender Schuld zu befreien, dies vermochten sie nicht. Bei der Heilung des Gelähmten war die Sündenvergebung ein untrügliches Zeichen, dass Jesus göttliche Macht verliehen war. "Ihr sollt erkennen", sagt Jesus, "dass der Menschensohn die Vollmacht hat, hier auf Erden Sünden zu vergeben" (Mk 2,10). Jesus dienten Heilungen leiblicher Gebrechen einzig und allein dem Erweis einer Kraft, die nicht aus dem Menschen kommt. Sie ist ihm von Gott verliehen worden. Die körperlichen Heilungswunder wollen hinweisen auf das, was Gott durch Jesus in den Menschen bewirken will.
Die Herzen der Menschen sollen geheilt werden von dem, was in ihnen noch krank ist, was sie gefangen hält, sie nicht frei werden lässt für das Gute. Jesus will uns heilen von Blindheit, von Taubheit, von der Sprachlosigkeit des Herzens. Es sind meine tauben Ohren, mein stummer Mund, mein blindes Herz. Ich müsste mich fragen lassen, was in mir noch taub ist, was die Ohren meines Herzens noch verschlossen hält. Bin ich hörfähig für das, was Gott mir sagen will? Erreicht das Wort Gottes, kundgetan in den Biblischen Schriften, mein inneres Ohr? Wie tief lasse ich mich davon anrühren?
Heil bringende Krankheit
Jesus wollte nicht alle körperlichen Gebrechen der Menschen heilen. Dazu war er nicht gekommen. Auch heute werden viele Menschen nicht von ihren Krankheiten geheilt, obwohl sie sich vertrauensvoll an Gott gewandt haben, und andere mit ihnen. Wenn sie uns treffen, dann können sie für uns heilsam sein. Durch sie lässt uns Gott Erfahrungen innerer Heilung machen.
Hildegard von Bingen spricht von einer infirmitas salubris, von einer Heil bringenden Krankheit, an der Menschen innerlich gesunden können. Sie sagt, es gäbe Menschen, die körperlich gesund sind, aber in ihrem Innern krank, und es gäbe Menschen, die leiblich krank sind, innerlich hingegen gesund. Die heilige Hildegard war selber ein Leben lang von Krankheit heimgesucht, und es könnte sein, dass dies sie sensibler gemacht hat für das, was Gott sie in ihrem Herzen sehen und hören ließ. Schwester Caecilia Bonn aus Eibingen schreibt zur Heilkunde ihrer Ordensgründerin: "Hildegard fügt hier und da ihren Rezepten den Zusatz an: "Nisi Deus nolet". Dieses Medikament wird nur helfen, wenn Gott es will. Wenn Gott es nicht will, dann wirst du nicht gesund, dann wird keine Arznei helfen. Die Krankheit wird dann wirksamer Heilfaktor." Sie zitiert ein Wort Hildegards: "Sei doch nicht wehleidig, deine Krankheit ist jetzt die Therapie Gottes an dir."
Und ein anderes Wort: "O Mensch, du bist Gottes Bild. Jetzt ist er es auch, der dich durch Zurechtrücken siebt. . . So trage auch du die Krankheit des Leibes nicht als unverdiente Last und mit wehem Herzen" (in: Die Spiritualität Hildegards von Bingen - Du führst den Geist in die Weite, S. 3). Hildegard war der Meinung, dass die Gesundheit des Menschen ein fortwährender schöpferischer Prozess ist, der alle Bereiche unserer Natur, des Geistes und alle religiösen sittlichen Dimensionen in Anspruch nimmt. Für sie ist Gesundheit ein Zusammenwirken aller Kräfte, die dem Leben inne wohnen. Der Psychologe und Mediziner C. G. Jung hat als letzte Lösung seinen Patienten in einer aussichtslosen Therapie gesagt: "Ich kann Ihnen nur eines empfehlen: Nehmen Sie Gott."
Wer wünschte sich nicht, dass ihm Krankheiten erspart bleiben, vor allem schwere und unheilbare Krankheiten? Wie inständig habe ich als Junge für meine schwer kranke Mutter gebetet, aber sie dann doch gestorben, mit sechsundvierzig Jahren. Uns alle trifft einmal der Tod. Auch die von Jesus geheilten Menschen hat der Tod ereilt. Lazarus, der von Jesus ins Leben zurückgerufen wurde, musste später sterben. Das letzte Wunder, das Gott durch Jesus, seinen auferweckten Sohn, vollbringen wird, ist das Leben aus dem Tod. An dieses größte aller Wunder möchte ich glauben.
Manfred Wussow (2006)
Johann Pock (2000)