Gott kennt keine Begünstigung und Bevorzugung
Der Eröffnungssatz der Lesung „Der Herr ist der Gott des Rechts, bei ihm gibt es keine Begünstigung“ lässt uns erkennen, gegen welches Denken Jesus Sirach seine Stimme erhebt. Er wird all jene im Auge haben, die menschliches Verhalten auf Gott projizieren und sich damit ein falsches Bild von Gott entwerfen.
Unter uns Menschen ist Begünstigung Alltagsgeschehen. Wir praktizieren sie, ohne lange darüber nachzudenken.
- Menschen, die ich gut leiden kann, stehen in meiner Gunst höher, als jene, die ich nicht so richtig leiden mag.
- Bei Menschen, die mir zum Vorteil werden könnten, achte ich viel deutlicher als bei anderen darauf, sie nicht zu verärgern, damit ich mir ihre Gunst nicht verscherze.
- Wenn ich aus verschiedenen Richtungen angefragt werde zu helfen, entscheide ich mich im Normalfall ohne langes Überlegen für die, die mir gut sind oder waren. Ich frage mich in der Regel nicht erst noch, ob der andere, der mir ferner steht, meine Hilfe viel dringlicher bräuchte oder sogar notwendig auf meine Hilfe angewiesen ist.
Dieses menschlich praktizierte und auch verständliche Verhalten, es steckt ja nichts Boshaftes dahinter, auf Gott zu übertragen, ist falsch, will uns Jesus Sirach sagen. Gott kennt keine Begünstigung und Bevorzugung. Er hat mich nicht lieber als den Schlosser oder Schreiner, nur weil ich Priester bin und für ihn arbeite. Er hat den Frommen nicht lieber als den Aufsässigen mit seiner Kritik. Gott liebt den Sünder nicht weniger als den Guten mit seiner Mühe. Gottes Liebe ist anders als die der Menschen. Er schenkt seine Liebe uneingeschränkt jedem.
Vorbehaltlos lieben wie Gott
Manche leiten für sich daraus ab: Warum soll ich mich dann noch mühen? An dieser Frage entscheidet sich, welcher Art Mensch ich bin und sein will. Gute Werke tun, nur damit ich in die Gunst Gottes komme, ist menschliches, geschäftliches Denken. Niemand hat es nötig, sich durch die Vorleistung guter Werke die Gunst Gottes zu erwerben; er hat sie und die Liebe Gottes längst in Fülle auf seiner Seite, noch bevor er für das Gute einen Finger krümmt.
Die Liebe zu leben, hat etwas zu tun mit dem Mensch-Sein. Echtes, mündiges Mensch-Sein – so müssen wir uns immer wieder bewusstmachen – zeichnet sich darin aus, dass wir in der Freude über Gott und unsere Ebenbildlichkeit mit ihm das Gute und die Liebe in dem Maß anstreben, wie es uns möglich ist. Ob wir uns mit Gottes Hilfe und einer intensiven Mühe um die Liebe formen und entwickeln wollen, indem wir die uns geschenkten Veranlagungen zum Guten ausbauen, oder ob wir mehr dabei bleiben möchten, Liebe nur dann zu leben, wo es gilt, um Gunst und Vorteil zu buhlen, das müssen wir, jeder für sich, entscheiden. Dies ist in unsere persönliche Verantwortung für uns gegeben.
Gott ist nicht parteiisch
Kehren wir zum Text der Lesung zurück. Noch in einem zweiten Punkt gilt es, menschliches Denken nicht auf Gott zu projizieren. Jesus Sirach sagt: „Der Herr ist ein Gott des Rechts“. „Er ist nicht parteiisch...“. Damit soll uns gesagt werden: Gott lässt sich durch nichts dazu verleiten, von seiner von Anfang an gewährten Liebe zu einem Menschen im Nachhinein Abstriche zu machen. Er beginnt nicht irgendwann, seine Liebe dosiert zu gewähren – dem einen mehr, dem anderen weniger. Mit dieser Botschaft hat Jesus Sirach vor allem jene im Auge, die ins Leid gekommen sind: in Armut, Krankheit, Unglück, Not. Besonders jene, die sich in ihrer leidvollen Situation fragen „Wo bleibt Gott mit seiner Liebe?“, sollen wissen und daran festhalten: Unser Leid, unsere Not sind nicht Zeichen dafür oder gar ein Beweis, dass sich Gott von uns abgewandt hat. Der Gedanke „Gott hat sich von mir abgewandt“ ist eine total falsche Einschätzung gegenüber Gott, eine menschliche Projektion auf ihn.
Was uns in den Situationen der Not immer wieder zu schaffen macht, ist die Tatsache, dass wir im Leid oft Gottes weiterhin geschenkte Liebe nicht erkennen können. Das Gefühl macht sich breit: Mein Rufen, mein Flehen hört Gott nicht; er wendet sich mir nicht zu.
Not und Leid können uns kurzsichtig machen. Denn trotz allem Schweren lässt sich aus Leid auch Gewinn ziehen.
Durchlittenes Leid kann uns stärker machen, gütiger, aufmerksamer für andere. Nicht nur Freude, auch Leid vermag uns positiv zu prägen und zu formen.
Leid kann sodann zur Besinnung führen – vor allem wenn wir es selbst mitausgelöst und mitverursacht haben. In diesen Situationen fordert es uns auf, uns zu fragen: Wie kann ich törichtes, Schmerz bringendes Verhalten zukünftig meiden?
Oder erfahrenes Leid durch andere, kann uns warnen und abschrecken, Gleiches zu tun, und uns bewegen, grundsätzlich zu überprüfen: Wie verhalte ich mich anderen gegenüber?
Bitten, nicht fordern
Es wäre sicher falsch, Leid stets und ständig total negativ zu bewerten. Das ist die eine Seite. Andererseits gibt es auch Formen und Ausmaße des Leids, die wir aus menschlicher Sicht nur ablehnen können, da wir auf das „Warum“ keine Antwort finden. Und hier genau besteht die Gefahr, Gott gegenüber vom Bitten ins Fordern überzuwechseln. Gott soll es richten. Nur der uns liebende Gott ist keine automatische, himmlische Wunderwaffe, die wir nach Bedarf durch Bitten erfolgreich einsetzen können. Erneut sind wir zu einer Entscheidung herausgefordert: Will ich darauf vertrauen, dass ich auch in meinem nicht verstehbaren Leid in der Liebe Gottes aufgehoben bin?
Selbst handeln
Schließlich möchte uns Jesus Sirach zu einem dritten Schritt bewegen. Wenn wir zu denen gehören, die sich Gott verbunden wissen, werden wir uns von ihm in Dienst nehmen lassen. Die konkrete Verwirklichung des Rechts will Gott als der „Herr des Rechts“ ja vor allem auch mit in unsere Hände legen. Gott, so möchte ich es ausdrücken, ist nicht in erster Linie ein „Macher“ und alleiniger „Vollstrecker“. Er zeigt uns vielmehr oft, wie rechtes Verhalten und Handeln aussieht, damit wir in seinem Namen dem Rechten zum Sieg verhelfen. Nach seinem Hinweis an uns zieht sich Gott nicht völlig zurück, sondern gibt uns Kraft für unser Tun. Dies können wir spüren. Wir werden unruhig. Wenn wir auf der Seite Gottes stehen, bewegt uns nämlich, was ihn bewegt. Wir können dann nicht gelassen tatenlos dem Unrecht zusehen und uns in Schweigen hüllen. Wenigstens die Stimme werden wir erheben, um das Unrecht beim Namen zu nennen.
Oder wenn wir das Schicksal anderer erleben - selbst wenn sie nicht zu unseren Freunden zählen, wird uns ihre Not, ihr Leid nicht kalt lassen. Wir werden auf Menschen zugehen, wie Jesus es tat. Im Blick auf Gottes große Liebe zu uns werden wir unsere Herzen gegenüber denen, die uns Unrecht taten, nicht so verhärten, dass jeder Anlauf einer Versöhnung scheitert. Schließlich werden wir Parteilichkeit, die Unrecht fördert, bewusst meiden. Ja wenn wir auf der Seite Gottes stehen, werden wir alle Kraft daran setzen, rechtes Handeln anzustreben.
Als erstes Anliegen möchte Jesus Sirach sicher allen, die in Not sind, Mut machen, ihr Leid mit Vertrauen und Zuversicht Gott vorzutragen und daran festzuhalten, dass Gott sich von ihnen nicht abgewandt hat. Ohne es direkt zu benennen, verfolgt er aber sicher ebenso: Alles Flehen und Bitten der Menschen möge auch unser Ohr und unser Herz erreichen und zur Tat bewegen. Denn nichts ist schöner, richtiger und mehr ein Zeichen echten Mensch-Seins, als durch unser Mitwirken mit dazu beizutragen, Menschen zu ihrem Recht und Wohlergehen zu verhelfen.
Martin Stewen (2004)
Wolfgang Jungmayr (2001)
Hans Hütter (1998)