Der Verfasser der Offenbarung sieht einen neuen Himmel und eine neue Erde kommen und tröstet mit dieser Sichtweise seine Gemeinden in schwerer Zeit. Was Jesus gebracht und angestoßen hat, bringt Neues hervor. Menschen die lieben, wie er geliebt hat, erneuern die Erde...
Alles neu macht der Mai
Wir sind im Wonnemonat Mai. Ihm wird nachgesagt, er mache alles neu! Wir träumen vom Frühling, von Farbenpracht, von warmen langen Tagen. Ein alter Liebes-Film verspricht: im Prater blüh‘n wieder die Bäume. Und wer im Mai heiraten möchte, muss sein Fest sehr früh planen. Alles voll!
Was „neu“ wird, löst etwas Altes ab, markiert einen Wendepunkt, verträgt vielleicht sogar einen Superlativ. Super! Gelegentlich. Wenigstens. Ob der Mai das hinbekommt? Vielleicht braucht er einen Werbetexter? Eine Marketingstrategie? Was hat dieser Monat, was andere nicht haben?
Das Wort „neu“ taucht übrigens immer wieder neu auf, ziert Produkte und Plakate, ist beliebt, bunt und auffallend – nur: meistens nicht neu. Glaubt man gar Kohelet, dem alten Weisheitslehrer, gibt es nichts Neues unter der Sonne. Ist das pessimistisch? Verbittert? Nostalgisch? Kohelet hat in ein Wespennest gestochen. Ernüchtert schaut er hinter alles, was „neu“ daherkommt – oder ist es einfach befreiend? Jetzt ist das Schwirren groß. In endlosen Wiederholungsschleifen. Doch der Gedanke, dass „neu“ nur eine Schönheitsfarm für Altes ist, will mir nicht gefallen. Was darf alt bleiben? Was muss neu werden? Was ist das eigentlich: „neu“? Die Welt der Dinge und ihrer Vermarktung verschwindet hinter unseren Köpfen. Wir verlassen sie, lassen sie hinter uns zurück. Wir werden in einer anderen Liga spielen.
Neuer Himmel, neue Erde
Wir sehen einen neuen Himmel, eine neue Erde! Jedenfalls, wenn wir uns die Augen von Johannes leihen! Er ist auf der Sträflingsinsel Patmos verbannt. Geht es nach dem Willen des Kaisers, wird er von hier nicht mehr wegkommen. Sein Vergehen? Wollen Sie es wirklich wissen? Er ist Christ! Was daran so verwerflich ist? Der Kaiser sieht sich als Gott, beansprucht Verehrung über alle Maßen und gibt das letzte Wort nicht ab. Johannes erzählt Bände davon – und tröstet die kleinen verunsicherten und ängstlichen Gemeinden in Kleinasien. Ihre Lage ist bedrohlich. Nein, trösten ist doch viel zu wenig: Johannes weckt und stärkt ihren Widerstandsgeist. Gegen Rohheit, Gewalt und Machtmissbrauch, gegen Einschüchterung, Propaganda und Beschönigung. Die alte Welt sieht Johannes untergehen. Sie kann nicht bestehen. Es ist ein Sonntag, der erste Tag der Woche, der Tag, an dem Jesus von den Toten auferstand. Er ist der Herr! Der Kaiser nur ein Mensch. Johannes aber beschreibt, was er sieht. Heute. Den neuen Himmel, die neue Erde. Die Stadt Gottes kommt zu den Menschen. Ich sehe, wie Johannes mit seinen Augen verfolgt, wie eine neue Welt, eine neue Zeit sich unaufhaltsam nähert. Auf uns zukommt. Mit einer Gewissheit, die von keiner menschlichen Macht in Frage gestellt oder in Zweifel gezogen werden kann.
Johannes schreibt:
"Seht die Wohnung Gottes unter den Menschen!
Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein.
Und er, Gott, wird bei ihnen sein."
Gott mitten unter uns
Was ist jetzt neu? An Himmel und Erde? Was wie ein Traum beginnt, sich zu einer Vision auswächst, ist in Wirklichkeit das Wohnen Gottes unter uns. Das ist ein uraltes Bild, das Bild von der Heimat Gottes inmitten seines Volkes, der Menschen, die er liebt. Fromme Juden sprechen von der Schechina Gottes, wahren aber sein Geheimnis, seine Verborgenheit, seine Heiligkeit. Der Ewige wohnt mit seinem Namen unter uns.
In allen Gefährdungen, Verletzungen und Verleumdungen sind wir nicht alleine, auch nicht alleingelassen: Er ist in unserer Mitte. Angefochten, verklagt und bedroht. Aber er hält für uns stand. Er hält mit uns stand. Ist das der neue Himmel? Die neue Erde?
Es ist ein Sonntag, der erste Tag der Woche. Christen feiern die Auferstehung Jesu. Johannes auf seiner Insel, die kleinen Gemeinden in Kleinasien, Indios in ihren Reservaten, KZ-Häftlinge im Lager – und wir feiern mit ihnen. Was bei uns oft so gewöhnlich, vertraut, selbstverständlich geworden ist, ist aber trotzig, widerspenstig und mutig - Zeugnis eines so großen Vertrauens, dass Tod und Teufel das Fürchten lernen. Herr ist Jesus. Das ist auch das älteste Bekenntnis, das unter uns lebt. Sein Name.
Die sog. Geheime Offenbarung mag uns ein Buch mit den sieben Siegeln sein, fremdartig, geheimnisvoll, sperrig. Dabei ist es eines der schönsten Bücher, die uns im Neuen Testament begegnen. Trost und Widerstand in einem. So ziemlich alle Bedrohungen und Ängste, die wir kennen, sind in diesem Buch aufbewahrt, benannt und entzaubert.
Ein neues Gebot
Heute entdecken wir in unserem Gottesdienst, dass der neue Himmel, die neue Erde, im Evangelium mit der Liebe bezeichnet und gefüllt wird. Es ist Johannes, der Evangelist, der diese Geschichte noch einmal aus einer anderen Perspektive zu erzählen hat. In wenigen Worten deutet sich eine Katastrophe an. Judas wird Jesus verraten – und verlässt das Haus. Er wird es nicht mehr betreten. Als er gegangen ist, spricht Jesus aber von seiner Herrlichkeit. Das überrascht. Herrlichkeit? In der Situation? Weiß Jesus nicht… Ahnt Jesus nicht? Aber was ist herrlich? Hören wir Jesus:
"Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander!
Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.
Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: Wenn ihr einander liebt."
Wie ich euch geliebt habe, sagt Jesus – und das wird zum Maßstab, zur Richtschnur und zum Vermächtnis. Und wie hat Jesus uns geliebt? Der Evangelist breitet das vor uns, mit immer neuen Anläufen, immer neuen Ausblicken. Jesus hat aus Liebe sein Leben gegeben, aus Liebe den Tod überwunden, uns aus Liebe angenommen. Wenn wir einen neuen Himmel, eine neue Erde sehen können, dann nur, weil wir geliebt sind. Davon können wir nicht genug hören, nicht genug reden. Um daran Maß zu nehmen!
Liebe, mehr als Toleranz
Gewagt und übermütig ist das schon. Es ist schwer, Menschen zu lieben, die anders sind, anders aufgewachsen, anders sozialisiert, anders geprägt - die eine andere Sprache sprechen, eine andere Religion haben, eine andere Geschichte erzählen. Jesus lässt uns in seiner Liebe Liebe entdecken, die mehr ist als Toleranz. Liebe sucht den anderen Menschen, während Toleranz ihn nur erträgt, Liebe gewinnt den anderen Menschen, während Toleranz ihn verliert. Ich merke eine Schere im Kopf, eine Schere im Herzen. Kann ich das? Darf ich das?
Jesus spricht von einem neuen Gebot. Kann es ein neues Gebot richten? Große Fragen tun sich auf. Ist das Liebesgebot nicht uralt? Nicht von Anfang an gegeben? Was kann daran neu sein? Neu werden? Oder ist es nur neu zu sagen, neu zu beleben, neu zu üben?
Liebe dürfte das meist gebrauchte Wort sein. Gleichzeitig aber auch das meist verbrauchte. Das schönste, aber auch das gefährlichste. Jesus gibt uns ein neues Gebot, das mit seinem Leben so eng verknüpft ist, dass die Liebe immer neu wird. Sie verwandelt auch die schlechten Erfahrungen, die Minderwertigkeitskomplexe und den alltäglichen Größenwahn, der Spuren von Verbitterung und Einschüchterung hinterlässt (und hinterlassen will).
Liebe muss um ihrer selbst willen immer wieder jung, immer wieder neu werden. Das neue Gebot, das Jesus gibt, lässt unter uns den neuen Himmel, die neue Erde sichtbar werden. Mit den Augen des Johannes, mit den Augen der Liebe: wir sehen die Stadt Gottes. Und alles wird neu!
Was „neu“ wird, löst etwas Altes ab, markiert einen Wendepunkt, verträgt vielleicht sogar einen Superlativ. Kleine Brötchen backt die Liebe nicht. Sie baut eine Stadt!
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Hans Hütter (1998)
Martin Stewen (2004)