1. Lesung vom 1. Adventssonntag, Lesejahr B:
Jes 63,16b-17. 19b; 64,3-7
Lesung aus dem Buch Jesaja:
Du, Herr, bist unser Vater,
«Unser Erlöser von jeher» wirst du genannt.
Warum läßt du uns, Herr, von deinen Wegen abirren
und machst unser Herz hart,
so daß wir dich nicht mehr fürchten?
Kehre zurück um deiner Knechte willen,
um der Stämme willen, die dein Eigentum sind.
Reiß doch den Himmel auf, und komm herab,
so daß die Berge zittern vor dir.
Seit Menschengedenken hat man noch nie vernommen,
kein Ohr hat gehört, kein Auge gesehen,
daß es einen Gott gibt außer dir,
der denen Gutes tut, die auf ihn hoffen.
Ach, kämst du doch denen entgegen,
die tun, was recht ist, und nachdenken über deine Wege.
Ja, du warst zornig;
denn wir haben gegen dich gesündigt,
von Urzeit an sind wir treulos geworden.
Wie unreine Menschen sind wir alle geworden,
unsere ganze Gerechtigkeit ist wie ein schmutziges Kleid.
Wie Laub sind wir alle verwelkt,
unsere Schuld trägt uns fort wie der Wind.
Niemand ruft deinen Namen an,
keiner rafft sich dazu auf, festzuhalten an dir.
Denn du hast dein Angesicht vor uns verborgen
und hast uns der Gewalt unserer Schuld überlassen.
Und doch bist du, Herr, unser Vater.
Wir sind der Ton, und du bist unser Töpfer,
wir alle sind das Werk deiner Hände.
Die Lesung ist dem "Dritten Jesaja" entnommen – Tritojesaja. Das Volk Gottes hat einen langen Weg hinter sich, auch Tiefpunkte und zurecht gestutzte Hoffnungen. Die Heimkehr aus der Gefangenschaft in Babylon gestaltet sich mühsam und schwierig.
Es ist ein Gebet, das hier überliefert wird. Gott wird als Vater angesprochen, als "Erlöser von jeher". Ihm werden Fragen gestellt, ihm wird die Bitte zugetragen, sich doch wieder gnädig und barmherzig der Menschen anzunehmen, ihm wird aber auch bekannt, wie "unrein" die sind, die ihre Hoffnungen auf ihn setzen.
Im Gebet wird aufgezählt, was Menschen von sich sagen können: Gerechtigkeit wie ein schmutziges Kleid, verwelkt wie Laub, von Schuld verweht. Im Gebet können Menschen ihre Sorge aussprechen: Du hast uns der Gewalt unserer Schuld überlassen. Und Gott wird ins Gebet genommen, weil wir alle das Werk seiner Hände sind.
Das Adventslied "O Heiland reiß die Himmel auf" ist von diesem Gebet inspiriert. Gott soll "herab" kommen, die Distanz überwinden, die es zwischen ihm und seinem Volk gibt – Gott soll denen entgegenkommen, die tun, was recht ist.
Das Lied drückt aus, wie verloren Menschen sind, wenn sie in ihrem Vertrauen allein gelassen sind. Eine Gemeinde, die am Ersten Advent singt "O Heiland reiß die Himmel auf", übernimmt die alten Bilder und Bitten des Propheten und tritt in die Hoffnungen ein, die lange vor ihr formuliert wurden.
Dieser "Psalm aus dem Mund Jesajas", hineingerufen in eine Zeit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels (587 v. Chr.), ist gekennzeichnet durch die Elemente der Klage, die die Sehnsucht nach dem Erscheinen und dem Offenbarwerden Gottes zum Ausdruck bringt, des Schuldbekenntnisses und am Ende des Abschnittes durch das Element des Vertrauens an Gott, der sich als Schöpfer und Vater erweist.
Der Beter macht dabei die Erfahrung der Abwesenheit Gottes: Gott hat sich von ihm und von seinem Volk entfernt. Die Schuld hat das Volk gelähmt. Es ist auf die Umkehr Gottes angewiesen. Mit den Worten des Beters hofft das Volk auf das große und einzigartige Ereignis des Entgegenkommens Gottes.
Manfred Wussow (2005)
Gabi Ceric (1996)