Entscheidungen
Am Ende eines Jahres geht uns manche Frage durch den Kopf und auch durchs Herz. Ich möchte Sie einladen, sich kurz folgender Frage zu stellen: welches waren die wichtigsten Entscheidungen, vor die ich mich im vergangen Jahr gestellt sah? Wie bin ich damit umgegangen? Was war da gelungen, was misslungen? Was habe ich diesbezüglich versäumt? Es lohnt, sich am Ende eines Jahres solchen Fragen zu stellen, denn in ihnen widerspiegelt sich das Leben, das wir im vergangenen Jahr geführt haben und wie wir es geführt haben.
Es ist so, weil wir mit unseren Entscheidungen ganz konkret zum Ausdruck bringen, wie wir denken und fühlen, welches unsere Grundeinstellungen sind und welche Ziele wir verfolgen. An unseren Entscheidungen können wir ablesen, wie wir mit unserer Freiheit umgehen, wie wir ihr Gestalt geben. Die Freiheit gehört aber zum Kostbarsten, das wir besitzen. Sie macht unser Menschsein aus. Lassen Sie mich deshalb den Zusammenhang zwischen Freiheit und Entscheidung etwas verdeutlichen.
Freiheit
Entscheidung gehört ganz wesentlich zur Freiheit. Ohne Entscheidung bleibt Freiheit wie in der Luft hängen. Sie kann dann nicht Fuss fassen, nicht konkret werden. Wer sich nicht entscheiden kann ist wie der sprichwörtliche Esel, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert. Ich denke, jede und jeder von uns war schon solch ein "Esel". Immer wieder mal geraten wir in eine Situation, wo wir gerne etwas möchten und uns doch nicht so recht trauen, wo wir hin und her gerissen sind zwischen: soll ich, oder soll ich nicht? Eine Entscheidung fällen, ist längst nicht immer einfach. Sich für, oder gegen etwas entscheiden, bedeutet nämlich immer: sich festlegen, Farbe bekennen, sich einengen.
Ja, jede Entscheidung bedeutet Einengung. In dem Moment, wo ich mich für jemanden, oder etwas entscheide, schliesse ich damit alle anderen Möglichkeiten aus, die mir die Freiheit vor dieser Entscheidung auch angeboten hatte. Das erzählt sehr schön eine Parabel aus dem Orient, die Geschichte von der tausend und elften Nacht. In dieser Geschichte wird ein Mensch in einen grossen runden Raum versetzt. In der Mitte dieses Raumes steht ein bequemes Bett. Darauf ruht dieser Mensch. Aber die Ruhe dauert nicht lange. Sie weicht Unzufriedenheit, denn der Mensch empfindet Langeweile in diesem eintönigen Raum. Freiheit will eben immer wieder Neues, sie will Abwechslung und Entdeckung. So überlegt der Mensch auf seinem Ruhebett, wie er aus diesem Raum heraus kommt.
Das scheint ganz einfach zu sein. Denn die runde Wand, die den Raum abgrenzt, ist voll von Türen. Hunderte von Türen sind da. Hunderte von Möglichkeiten sind der Freiheit angeboten, aus dieser Situation heraus zu kommen. Aber gerade das, was so einfach erscheint, macht alles unheimlich kompliziert.
Wagnis
Zunächst einmal weiß der Mensch nicht, was hinter jeder Türe steckt. Hinter welcher Tür öffnet sich ein wunderschöner Garten; hinter welcher lauert vielleicht ein wildes Tier? Mit solchen Bildern will die Geschichte sagen, dass jede Freiheitsentscheidung immer auch ein Stück Wagnis bedeutet. Ich kann nicht von vornherein alle Konsequenzen überblicken, die eine Entscheidung mit sich bringt.
Weiter weiß der Mensch, der mitten in diesem Raum auf dem Ruhebett gelagert ist, dass alle Türen offen sind. Er weiß aber auch: in dem Moment, wo er eine Tür öffnet und durch sie hindurch schreitet, verschließen sich alle anderen Türen. Die Parabel berichtet, dass der Mensch über Tage und Jahre hindurch ruhelos an der Wand mit den hunderten von Türen entlang geht. Und er schreckt immer wieder davor zurück, eine zu öffnen aus Angst, dass damit eben alle anderen verschlossen sein werden. Mit der Zeit wird dieser Mensch älter und die Türen in der Wand weniger, immer weniger. Im Augenblick, wo er stirbt, wird auch die letzte Tür verschwunden sein.
Ein einprägsames Sinnbild für das Wechselspiel von Freiheit und Entscheidung.
Der Mensch muss Entscheidungen fällen. Anders kann er Freiheit nicht verwirklichen.
Je länger er notwendige Entscheidungen hinausschiebt, desto mehr verkümmern die Möglichkeiten, die ihm die Freiheit anbietet, denn die Zeit des Menschen ist begrenzt. Aber jede Entscheidung bedeutet eine Wahl, welche die anderen Möglichkeiten ausschließt. Jede Entscheidung bedeutet auch Risiko. Ich kann nicht alles vorausberechnen. Ich weiss nicht, was alles sich hinter der Tür verbirgt, die aufzustoßen ich mich entscheide.
Offene Türen
Diese Parabel ist gleichzeitig ein Sinnbild für die Situation, in der wir heute, am Übergang von einem Jahr ins Andere stehen. Zurückblickend können wir fragen: wie viele Türen habe ich im vergangenen Jahr geöffnet? Durch was für Türen bin ich hindurch gegangen? Vor welchen Türen bin ich zurückgeschreckt? Habe ich Türen zugeschlagen, die Andere mir öffnen wollten? Was für Türen sind weniger geworden?
Wenn wir voraus blicken ins Neue Jahr, dann ist es, als ob wieder viele Türen offen stehen würden. Doch was verbirgt sich dahinter? Welche Gefahren, welche Herausforderungen stecken hinter so einer Tür? Das Neue Jahr bietet gleichsam wieder einen offenen Horizont für unsere Freiheit. Das Neue Jahr wird uns auch wieder, und manchmal unerbittlich, vor Entscheidungen stellen mit ihrem Risiko und mit der Qual der Wahl.
Vom Glauben spricht die Parabel aus dem Orient nicht. Und doch liegt es geradezu auf der Hand, wie entscheidend der Glaube für diese Beziehung zwischen Freiheit und Entscheidung ist. Was gibt mir denn die Zuversicht, letztlich die Gewissheit, dass es sich lohnt, das Wagnis der Entscheidung immer neu einzugehen, nicht zurückzuschrecken vor den Risiken, sich nicht lähmen zu lassen und damit immer mehr Türen zu verlieren? Die Zuversicht, notwendige Entscheidungen mit Vertrauen anzugehen ist im Glauben begründet, dass letztlich alles gut ist und Sinn hat, dass also auch das kommende Jahr mir Gutes anbietet und Sinn bringt. Deshalb und nur deshalb lohnt es sich ja auch, sich immer wieder für das zu entscheiden, was wir als gut erkennen, was Sinn stiftet, was Leben fördert. Und letztlich kann ich mich auch nur für jemanden, für Liebe entscheiden, weil ich daran glaube, dass meine Entscheidung beim Anderen Widerhall, Zustimmung finden kann.
"Ich bin die Tür"
Genau dieses Fundament bietet uns der christliche Glaube. Er sagt uns: Gott hat sich für den Menschen, für jeden Menschen entschieden. Und seine Entscheidung ist unumstößlich. Weil er daran durch alles hindurch festhält, ist er sogar das Risiko eingegangen, in seinem Sohn Jesus selber Mensch zu werden. Das haben wir an Weihnachten wieder freudig gefeiert. Bis zu welcher Konsequenz dieses Risiko Gott geführt hat, das zeigt uns das Kreuz. Mit dem Kreuz und der Auferstehung sagt Gott uns zu: meine Entscheidung für euch Menschen gilt durch alles hindurch und sichert euch zu, dass letztlich alles gut sein wird. Jesus hat das im Johannesevangelium einmal mit einem Bild ausgedrückt, das zu unserer Parabel zurückführt. Er sagt: "Ich bin die Tür. Wenn jemand durch mich hineingeht, wird er gerettet werden" (Joh 10,9). Entscheiden wir uns, durch diese Tür ins Neue Jahr hinein zu gehen. Dann ist das Fundament gelegt, auf dem wir zuversichtlich alle weiteren Entscheidungen angehen dürfen, die das Neue Jahr mit sich bringt.