Eine Wüstengeschichte
Kennen Sie die Geschichte von der Schlange? Jesus erwähnt sie. Im Gespräch mit Nikodemus, einem frommen Mann, scheint sie sogar eine besondere Rolle zu spielen. „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden.“ So Jesus. Irgendwie müssen wir diese Spur zu der Schlange finden, auch wenn sie uns in entlegene Gebiete und endlose Weiten führt. Schlange erhöht? Menschensohn erhöht?
Nehmen wir uns ein wenig Zeit, in alten Schriften zu blättern. Das Buch, in dem wir fündig werden, trägt den schönen, aber auch sperrigen Namen „Numeri“ – übersetzt „Zahlen“. Das ist eine lateinische Übersetzung aus dem griechischen, die darauf anspielt, dass besonders im ersten Teil dieses Buches viele Zahlen eine Hauptrolle spielen, hebräisch aber heißt das Buch nach den ersten Worten Bamidbar oder Bemidbar („in der Wüste“). Eine Wüstengeschichte, also. Israel ist in der Wüste. Was einer Durchreise ähnelt, ist aber Selbsterfahrung, Reifeprozess und Weggemeinschaft in einem. Die meisten Menschen kennen dieses Buch heute nicht mehr, obwohl es in der Bibel steht und auch 4. Buch Mose heißt, für unsere jüdischen Brüder und Schwestern aber es ist ein Teil der Thora, die mit einer Krone gekrönt ist und tanzend in der Synagoge getragen wird. Gott, dessen Name unaussprechlich ist, hat eine innige Beziehung zu seinem Volk. Immer schon ist er mit Menschen unterwegs. Auch durch die Wüste.
Schlangen
Die alte Schlangen-Geschichte, die im Wüstenbuch erzählt wird, weiß von Durststrecken und einer neuen Hoffnung. Das Volk Israel murrt und ist unzufrieden. Auch mit Gott. Das Brot ist alt und trocken, Wasser rar und brackig - und eigentlich weiß der Chronist nur zu erzählen, dass es den Leuten „ekelt“. Wir würden vielleicht formulieren: wir haben es satt. Zu einer Wüstengeschichte passt das. Auch im übertragenen Sinn. Wenn sich etwas endlos hinzieht, ohne Perspektive, ohne Land in Sicht, ohne Oase, schmeckt auch nichts mehr. Alles ist trocken. Vertrocknet. Der Mund und das Herz. Die Füße und die Augen. Solche Geschichten lassen sich in vielen Variationen erzählen. Sie können Jahrhundertromane füllen. Und die kleine Biographie. Vielleicht passt die lateinische Überschrift „Numeri“ auch deswegen so gut: das Elend wird zahllos, je mehr Schicksale abgezählt werden.
Doch Gott scheint es auch satt zu haben. Immer dieselbe Leier, immer dasselbe Klagen, immer derselbe Missmut. Lapidar heißt es in der Geschichte: „Das sandte der Herr feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus Israel starben.“ Eine entsetzliche Geschichte. Schlangen auf dem Weg, in den Zelten, auf den Tischen. Und das von Gott inszeniert?
Diese Geschichte ist unergründlich. Mein Kopf kommt nicht mit, mein Herz zerreißt. Ich fühle mit den Menschen, Gott aber verstehe ich nicht. Ich bekomme Angst vor ihm. Gerade in der Wüste suche ich ihn, sehe aber nur – Schlangen. Doch: was sehe ich? Stehen die Schlangen nicht für die Zweifel, die sich unendlich vermehren, in tausend Gedanken kriechen, sich nicht mehr bändigen lassen? Stehen die Schlangen nicht für die Angst, die sich immer neu windet, von allen Seiten ohne Laut über mich herfällt, mich erstarren lässt? Stehen die Schlangen nicht für den Hader, der nichts Gutes mehr sehen kann, alles schlecht macht, alles vergiftet? Diese Geschichte gleicht einem Experimentierfeld. Was Gott inszeniert, ist nicht Unheil, doch er macht das Unheil sichtbar. Dass ein Mensch dem anderen ein Wolf sein kann, fürchten wir schon länger, dass wir es mit Schlangen zu tun haben, begegnet uns nicht nur in der Wüste. Musste der Herr die feurigen Schlangen schicken? Was, wenn er es nicht täte?
Fürsprecher
Rätselhaft bleibt die Geschichte, die im Buch Numeri, Kapitel 21, erzählt wird. An ihr haben sich viele Ausleger schon die Zähne ausgebissen. Doch Lebensgeschichten sind so! Viele Menschen erzählen von bedrohlichen und beängstigenden Situationen, von sinnlosen Wegen und traumatischen Erfahrungen. Die schlimmsten Schlangen beißen im Traum, die giftigsten ins Herz.
In der alten Geschichte ist von einem Fürsprecher, einem Anwalt die Rede, der sich mutig an Gott wendet und für Menschen bittet, die einfach nicht mehr weiter wissen. Die kein Vertrauen mehr haben. Ja, die sich auch schuldig machen. Mit ihrer Bitterkeit, ihren Vorurteilen, ihren Klagen.
„Mose bat für das Volk. Da sprach der Herr zu Mose: Mache dir eine eherne (eiserne) Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben.“
Vielleicht habe ich auch nur auf diese Wendung gewartet. Wenn Menschen am Ende sind, wenn Menschen in die Situation geraten, an ein Ende zu kommen, wenn Menschen buchstäblich vertrocknen – dann brauchen sie einen Fürsprecher, einen Anwalt, der Worte für ihr Leben findet, der sich für sie verwendet, der für sie eintritt. Er muss nicht Mose heißen! Ich kann das sein. Oder Sie. Wir haben so schöne Namen.
Und Gott? Er schenkt ein Zeichen. Er lässt es so hoch aufrichten, dass man zu ihm aufblicken muss. Oder aufblicken kann. Die eherne (nachgemachte, eiserne) Schlange steht jetzt für eine Hoffnung. Was mich beißt, verletzt und tötet – wird zu einem Zeichen des Lebens. Das Unheil wird gebannt! Hoch oben aufgehängt! Sichtbar – weit weg. Und: eine eherne Schlange windet sich nicht mehr, häutet sich nicht mehr, beißt nicht mehr. Überhaupt: Sich aufrichten. Nach oben schauen. Eine neue Richtung! Sonst gehen wir immer nur weiter. Womöglich mit gesenktem Kopf. Niedergeschlagen. Die alte Geschichte weiß von einem Geheimnis: Gott schenkt dem Menschen eine neue Körperhaltung! Aufgerichtet werde ich. Und wenn ich aufschaue, sehe ich – eine erhöhte Schlange. Doch sie bedroht nicht mehr, sie ängstigt nicht mehr. Entmachtet, über meinem Kopf schwebend, sehe ich in ihr die Sehnsucht nach Erlösung.
Aufschauen
Kennen Sie die Geschichte von der Schlange jetzt? Jesus schließt sich ihr an. Im Gespräch mit Nikodemus, einem frommen Mann, nimmt er die Sehnsucht nach Erlösung auf. „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden.“
Jesus wird am Kreuz erhöht. Doch in dem Wort liegt so viel mehr als nur, an ein Kreuz genagelt zu werden – es ist eine herrschaftliche, königliche, göttliche Erhöhung: Am Kreuz erhöht, ist Jesus der Sieger, der Herr – und der Auferstandene. Mitten im Tod. Er hat das letzte Wort. Johannes, der Evangelist, wägt sorgfältig die Worte ab. Es kann nur das Wort „erhöht“ sein! Johannes beschreibt auch das Gespräch Jesu mit Nikodemus als Lichtblick, als Offenbarung. Was ich Ihnen noch nicht verraten habe: das Gespräch Jesu mit Nikodemus findet in der Nacht statt. Der fromme und gelehrte Nikodemus hat Angst, bei Tageslicht zu Jesus zu gehen. Er hat Angst, gesehen zu werden. Er hat Angst auch in seiner kleinen frommen Welt. In dieser Nacht geht dem Nikodemus dann tatsächlich das Leben auf: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hergab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.“
In manchen Bibeln ist dieser Satz fettgedruckt. Er muss in die Augen springen. Und wenn ich alles andere nicht lese: das muss ich lesen. Jesus muss erhöht werden, weil Gott die Welt geliebt hat, von Anfang an. Jesus muss erhöht werden, damit ich glauben kann. Jesus muss erhöht werden, damit wir nicht zugrunde gehen, sondern ewiges Leben haben.
Wer hätte gedacht, dass uns Schlangen auf diese Spur bringen!
Im Epheserbrief haben wir gelesen:
„Gott, der voll Erbarmen ist, hat uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren, in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, zusammen mit Christus wieder lebendig gemacht. Aus Gnade hat er uns gerettet. Er hat uns mit Christus auferweckt und uns zusammen mit ihm einen Platz im Himmel gegeben.“