Lesung aus dem ersten Buch Samuel.
In jenen Tagen
machte Saul sich
mit dreitausend Mann, ausgesuchten Kriegern aus Israel,
auf den Weg
und zog in die Wüste von Sif hinab,
um dort nach David zu suchen.
David und Abischai kamen in der Nacht zu den Leuten Sauls
und siehe, Saul lag mitten im Lager und schlief;
sein Speer steckte neben seinem Kopf in der Erde
und rings um ihn schliefen Abner und seine Leute.
Da sagte Abischai zu David:
Heute hat Gott deinen Feind in deine Hand ausgeliefert.
Jetzt werde ich ihn mit einem einzigen Speerstoß
auf den Boden spießen,
einen zweiten brauche ich nicht dafür.
David aber erwiderte Abischai:
Bring ihn nicht um!
Denn wer hat je seine Hand
gegen den Gesalbten des HERRN erhoben
und ist ungestraft geblieben?
David nahm den Speer und den Wasserkrug,
die neben Sauls Kopf waren,
und sie gingen weg.
Niemand sah und niemand bemerkte etwas
und keiner wachte auf;
alle schliefen,
denn der HERR hatte sie in einen tiefen Schlaf fallen lassen.
David ging auf die andere Seite hinüber und stellte
sich in größerer Entfernung auf den Gipfel des Berges,
sodass ein weiter Zwischenraum zwischen ihnen war.
David sagte: Seht her,
hier ist der Speer des Königs.
Einer von den jungen Männern soll herüberkommen
und ihn holen.
Der HERR wird jedem seine Gerechtigkeit und Treue vergelten.
Obwohl dich der HERR heute in meine Hand gegeben hatte,
wollte ich meine Hand nicht an den Gesalbten des HERRN legen.
Wir befinden am Anfang des letzten Jahrtausends vor Christus. Saul ist König und befindet sich im Dauerclinch mit dem jungen David. David ist ein gute Krieger und Politiker und steht treu zum Königreich. Saul aber sieht in ihm einen beständigen Widersacher. David hat es bereits geschafft, sein kriegerisches Geschick zu beweisen und hat sogar Sauls Tochter Michal zur Frau bekommen. Doch Saul traut ihm immer noch nicht und will ihn als Konkurrenten loswerden. Dabei hat David keinerlei umstürzlerische Absichten. Zweimal kommt es vor, dass David Saul aus dem Weg räumen könnte, um selbst auf den Thron zu gelangen. Doch David sieht jedes Mal davon ab. - Die zweite dieser beiden Geschichten erzählt die vorliegende Lesung.
Die Aufstiegsgeschichte Davids (ab 1 Sam 16) erzählt von Jahwes Zuwendung zu ihm. Diese Stelle ist eine Sage (Heldenerzählung) zur Idealisierung des späteren Königs David.
David ist in der Lesungsperikope der klar Unterlegene, auf der Flucht; er ist in der Wüste. Doch Saul gerät durch "Zufall" in Davids Hand. David steht vor der Prüfung: Nimmt er Rache – oder ist er loyal? Abischai (V. 8) ist dabei gleichsam der Versucher Davids, der ihn aufhetzen möchte; doch David anerkennt die Unantastbarkeit des "Gesalbten Jahwes" (V. 9).
David nimmt nur symbolisch als Zeichen für seinen nächtlichen Besuch im Lager zwei persönliche Gegenstände Sauls mit: den Speer und einen Wasserkrug. Saul sieht angesichts der Loyalität Davids seinen Fehler ein (V. 21): "Ich habe töricht gehandelt." Darauf gibt ihm David das Gestohlene zurück – und gibt als Maßstab seines Handelns an: dass "der Herr jedem seine Gerechtigkeit und Treue vergelten" wird (V. 23).
Die gemeinsame Geschichte von Saul und David endet an dieser Stelle; ihre Wege trennen sich endgültig, und sie werden sich im Leben nicht mehr begegnen.
Auch wenn es sich hier "nur" um eine Erzählung handelt, finden sich doch auch theologisch bedeutsame Gedanken.
1 Sam 26 stellt den Versuch dar, Davids Treue gegenüber Jahwe zu beweisen. Er hält der Versuchung, sich seines Verfolgers zu entledigen, stand, ja er rettet Saul vor dem stürmischeren Abischai. David weiß darum, dass er nur ein Werkzeug des Herrn ist, und seine Gerechtigkeit besteht darin, dass er den ihm wehrlos Ausgelieferten nicht selbst richtet, sondern ihn dem Urteil und Gericht Jahwes überlässt. Trotz aller Verfolgung anerkennt er Saul als den Gesalbten des Herrn (Vv. 9.23). In alledem weiß David aber um den Beistand Jahwes, der ihn "aus aller Bedrängnis erretten wird" (V. 24).
Es geht dem Erzähler darum zu zeigen, dass David nicht aus eigener Kraft, sondern nur durch die Hilfe Jahwes das Königtum erreicht hat. David ist ein von Gott Geführter.
Gleichzeitig aber ist David dadurch, dass er auch in der Verfolgung, als er außerhalb der Ordnung lebte, keine Schuld auf sich lud und sowohl Gott gegenüber gehorsam als auch dem König gegenüber loyal geblieben ist, als Fortführer des Alten, der Anfänge des Königtums unter Saul, legitimiert.
Der Segen über David, der Saul in einer Prophezeiung am Schluss dieser Erzählung in den Mund gelegt ist (V. 25), weist über diesen Kontext hinaus. Auf David gründet sich schließlich nicht nur das Königtum in Israel, sondern an ihm werden letztlich auch die messianischen Hoffnungen eines neuen Königtums festgemacht, die für uns Christen herüberreichen in das Neue Testament. Jesus, der "Sohn Davids" (Mt 1:6; 19:21), hat "es sicher vollbracht" (1 Sam 26:25), nämlich die Rettung seines Volkes.
Die Samuelbücher, die in der griechischen Bibel getrennt wurden, gehören eng mit den Königsbüchern zusammen. Sie erzählen den Geschichtsablauf von der Geburt des letzten Richters, Samuel, bis kurz vor den Tod Davids. Samuel, der letzte, der die richterliche und prophetische Funktion in dieser Form wahrnimmt, salbt den ersten König Israels: Saul und später auch dessen Nachfolger David. Die Hauptteile der Samuelbücher gliedern sich in:
1. Samuel und Saul (1 Sam 1-15)
2. Der Aufstieg Davids (1 Sam 16- 2 Sam 5.7-8)
3. Die Nachfolger Davids (2 Sam 6.9-20; 1 Kön 1-2)
4. Verschiedene Nachträge (2 Sam 21-24)
Der Aufstieg Davids wird sehr spannend und abwechslungsreich erzählt. Der Leser erfährt viele Details aus dem Leben Davids und zugleich wird exemplarisch das Handeln Gottes deutlich. Beginnend von der Salbung Davids an, über die Szene des jungen Zitherspielers am Königshof, der sich zu einem gefürchteten Feldherrn mausert, als Freischärler sogar zum Gegner König Sauls werden muß und schließlich nach dem Tod Saul selbst zum König wird, ist David kein "Heiliger" aber ein "Gerechter", der in Treue zu seinem Gott lebt.
Das wird besonders deutlich in den Szenen, in denen das Leben König Sauls in der Hand Davids liegt und er allen Grund hätte, ihn zu töten. Schon in 1 Sam 24 wird erzählt, daß Saul "zufällig" in die Höhle kommt, in der sich David vor ihm versteckt hält. David schont sein Leben, die beiden versöhnen sich - was Saul aber nicht davon abhält, sich kurze Zeit später wieder mit 3000 Mann auf die Suche nach dem Rivalen David zu machen.
Hatte David bei der ersten Szene ein Stück des königlichen Mantel abgeschnitten um seine Unschuld zu beweisen, so nimmt er jetzt den Speer und den Wasserkrug des Königs aus dem Lager mit. Es ist eine mehr als zeichenhafte Aktion, wenn man verfolgt, welcher Wert in den Samuelbücher auf Erzählungen über Kleidungsstücke und Ausrüstungsgegenstände gelegt wird (zum Beispiel als David die Rüstung Sauls anlegen soll um Goliath gegenüber zu treten 1 Sam 17:38ff; der Mantel Jonathans, den er David gibt 1 Sam 18:4; oder als Saul von Samuel erfährt, daß Gott ihm die Herrschaft wegnimmt 1 Sam 15:27).
Der Anrede "mein Sohn David" steht der Wille Sauls gegenüber, den Verlust der Herrschaft mit allen Mitteln zu verhindern. Der Unschuld Davids wird die Falschheit Sauls gegenübergestellt. Der Brutalität und Taubheit für den Willen Gottes auf Seiten des Machthabers steht der Glaube und das Gottvertrauen des ebenso Gesalbten gegenüber.
Mit dem Speer könnte David Saul in jener Nacht im Lager töten, mit dem Saul versucht hat, den jungen David, als er noch bei ihm am Hof lebte, an die Wand zu spießen (1 Sam 18:11;19:10). Der Speer als Symbol des Todes in der Hand des einen Gesalbten wird zum Zeichen der Unschuld und der Gerechtigkeit durch die Handlung des zweiten Gesalbten.
Nach dem Schuldeingeständnis Sauls folgt wie in der anderen Szene der Segen für den "Sohn" David. Paradoxerweise ist es gerade David, der neue Auserwählte und Gesalbte Gottes, der dem verworfenen König sein Königtum bestätigt (1 Sam 26:17.23). Gerade die Anerkennung seines Königtums durch David treibt Saul noch weiter in die Verzweiflung und in den Wahnsinn. Der Bruch zwischen den beiden ist trotz gegenteiliger Aussagen nicht mehr heilbar, jeder geht den von ihm eingeschlagenen Weg weiter.
Hier wird auch ein Stück des Geheimnisses der göttlichen Erwählung sichtbar: Gott erwählt und verwirft zugleich, gibt und nimmt, steht zugleich zu seinem Wort und zieht doch die Konsequenzen und auch der von Gott Auserwählte und Gesalbte ist frei in seinen Entscheidungen, genauso wie er auch deren Konsequenzen zu tragen hat.
Martin Stewen (2022)
Johann Pock (2001)
Regina Wagner (1998)