Zeugen werden
Ihr seid Zeugen dafür. Sagt Jesus. Ich habe die Geschichte gelesen, am Schreibtisch, bei einem Spaziergang bedacht, mit in die Nächte genommen - und jetzt das Evangelium vorgetragen. Ihr schaut schon ganz erwartungsvoll. Eine Predigt soll ich halten. Worüber?
Von uns hat doch keiner Jesu Hände, Füße, keiner seine Wunden gesehen. Er ist uns auch nicht erschienen. Uns hat er auch nicht um ein Stück Fisch gebeten. Aber was meinen Sie? Wäre das wert, gepredigt zu werden? Könnte uns das trösten? Motivieren? Erfreuen? Über den Tag retten? Könnte es gar die Welt verändern? Historisch interessant, als Geschichte lebendig erzählt, verstehen wir eigentlich - nichts.
Als Lukas, der toll und einmalig erzählen kann, sein Evangelium aus der Hand legte, endete es mit einer großen Verwunderung: Petrus ging davon und wunderte sich über das, was geschehen war. Jesus ist auferstanden. Als die Frauen, die ersten Zeugen, zu den Aposteln kommen, nehmen sie die Botschaft schlicht als Weibergeschwätz auf und – so Lukas wörtlich – „glaubten ihnen nicht“. Wenigstens wundert sich Petrus. Vielleicht eine liebevolle Ehrenrettung? Das ist zwar nicht alles, aber immerhin etwas.
Dass die Ostergeschichte mit Geschwätz, Unglauben und Verwunderung enden soll, gefiel Lukas immer weniger. Das kann doch nicht das Resümee des ganzen Evangeliums sein, mochte er gedacht haben. Schade, dass es uns nicht möglich ist, mit ihm darüber zu reden. Jedenfalls fügt er einen Kranz von Geschichten an, die alle davon erzählen, dass Jesus als der Auferstandene seinen Jüngern erscheint. Sie sollen sehen, hören, schmecken, dass er zurück ist. Sie dürfen, sollen auch seine Wunden sehen. Sie, die abgehauen sind, als Jesus einsam und gottverlassen am Kreuz verreckte. Sehen kann befreien. Eine Brücke bauen. Eine neue Geschichte öffnen. Wer wegsieht, kann am Ende nicht weiterleben - Wunden müssen gesehen werden. Jesus kommt gerade rechtzeitig zu den Jüngern. Es muss doch auch für die Jünger ein Ostern geben!
Sünden vergeben
Die Jünger werden von Lukas tatsächlich zweifelnd und ratlos vorgestellt. Als Jesus zu ihnen kommt, erschrecken sie sehr, fürchten sich, können nicht glauben, dass er es ist. Hatten sie die Geschichte mit ihm schon abgeschrieben? Hatte der Tod bei ihnen ein so leichtes Spiel? Ihnen wird, überraschend, die Aufgabe zuteil, Jesu Zeugen zu sein. Unter allen Völkern. Sie sollen verkünden, was sie gehört, was sie erfahren haben. Die österliche Erfahrung einer Umkehr, die dem Tod das Leben abtrotzt. Für Jesus und seine Jünger, für uns, wird das in der Vergebung der Sünden lebendig. Wenn Sünden vergeben werden, nehmen sie nicht mehr gefangen. Sie können Menschen nicht mehr an Vergangenheit fesseln. Sie können dem Bösen keinen neuen Auftrieb geben. Menschen stehen zu neuem Leben auf.
Dass Sünden vergeben werden, gehört zu den wundersamsten, aufregendsten und schönsten Hoffnungen, die Jesus schenkt. Ja, wenn Sünden vergeben werden, können Menschen neu anfangen. Sie können neue Menschen sein. Herausgerufen, herausgenommen aus dem Tod. Sünde und Tod sind seit jeher Gefährten, einander treu ergeben. Sie möchten nicht, dass Menschen glücklich sind. Sie fürchten nichts so sehr, wie ihre Macht über Menschen zu verlieren. Sie tun alles, um mit Hass, Angst und Schönreden Menschen schön gefügig zu halten. Wenn Sünden vergeben werden, ist ihr Bann gebrochen. Und wir sehen die herrliche Freiheit der Kinder Gottes – wie Paulus einmal sagte.
Die sog. Teufelskreisläufe haben sich ausgelaufen.
Im Brief des Johannes haben wir vorhin gelesen:
"Meine Kinder, ich schreibe euch dies, damit ihr nicht sündigt. Wenn aber einer sündigt, haben wir einen Beistand beim Vater: Jesus Christus, den Gerechten. Er ist die Sühne für unsere Sünden, aber nicht nur für unsere Sünden, sondern auch für die der ganzen Welt."
Jesus kommt zu seinen Jüngern. Er holt sie aus ihrem Loch. Er legt ihnen die Schrift aus. Die Geschichte Gottes mit uns Menschen. Von der ersten Zeile an. Von Anfang an. Schon in der hebräischen Bibel – wir nennen sie Altes Testament – sehen wir die Liebe Gottes, die sich mit allen Mächten anlegt. Seien es Könige. Seien es Tod und Teufel. Er hat das letzte Wort. Er hatte auch das erste!
Vorhin haben wir auch in eine Predigt hineingehört, die Petrus gehalten hat – gar nicht lange danach: Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott unserer Väter, hat seinen Knecht Jesus verherrlicht, den ihr verraten und vor Pilatus verleugnet habt, obwohl dieser entschieden hatte, ihn freizulassen. Ihr aber habt den Heiligen und Gerechten verleugnet und die Freilassung eines Mörders gefordert. Den Urheber des Lebens habt ihr getötet, aber Gott hat ihn von den Toten auferweckt. Dafür sind wir Zeugen.
Schon spannend zu lesen: Petrus sagt „ihr“ – weiß aber genau, dass er in dieser Geschichte der Verlorenheit tief drinsteckt – und dann kann er ansteckend und befreiend davon erzählen, dass wir für die Auferstehung Zeugen sind. Wir!
Traum
Am 15. Januar 1929 wird in Atlanta ein Junge geboren, der den Namen Michael bekommt. Wie sein Vater. Materielle Not kennt die Familie, eine Pfarrersfamilie, nicht, wohl aber Diskriminierungen in allen Schattierungen. Es sind dunkelhäutige Menschen, die unter der Rassentrennung leiden. 1934, anlässlich des Baptistischen Weltkongresses, besucht der Vater Deutschland. Hier wird die Rassentrennung immer mehr zur Politik der Nazis. Der Vater aber, zurückgekehrt, lässt seinen eigenen Vornamen und den seines Michael offiziell in „Martin Luther“ ändern. Aus Michael wird Martin – Martin Luther King. Der Nachname ist geblieben, königlich. Mit einem „Traum“ wird Martin Luther King Lebensgeschichten verändern:
Washington, 28. August 1963:
ICH HABE EINEN TRAUM!
„… Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Hügel und Berg erniedrigt werden. Die unebenen Plätze werden flach und die gewundenen Plätze gerade, und die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden und alles Fleisch miteinander wird es sehen. Dies ist unsere Hoffnung. Dies ist der Glaube, mit dem ich in den Süden zurückgehen werde. Mit diesem Glauben werden wir den Berg der Verzweiflung behauen, einen Stein der Hoffnung…“
Wer die Bibel kennt, hört den Propheten Jesaja heraus.
Vom Manuskript gelöst, ruft Martin Luther King:
„Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages diese Nation erheben wird und die wahre Bedeutung ihrer Überzeugung ausleben wird: Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: Alle Menschen sind gleich erschaffen.
Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.
Ich habe einen Traum, dass eines Tages selbst der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze der Ungerechtigkeit und in der Hitze der Unterdrückung verschmachtet, in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit verwandelt wird.
Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt.
Ich habe heute einen Traum!“
Doch, am 4. April 1968, vor 50 Jahren, wird Martin Luther King ermordet. In diesen Tagen denken wir an ihn. Und an einen Traum, der mit Mächten und Gewalten kämpft, ihnen das Feld aber nicht lässt. Im Psalm 126 heißt es: Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlöst, werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein.“
Geöffnete Augen
Ihr seid Zeugen dafür. Sagt Jesus. Wenn ich Worte suche, die trösten, aufrichten, befreien, ermutigen, verändern, wächst mir Ostern zu. Jesus kommt als Auferstandener in unsere Mitte. Er lässt uns die Wunden sehen. Er legt uns die Schrift aus. Er öffnet unsere Augen für neues Glück, für eine neue Welt.
Was meinen Sie? Ist das nicht wert, jeden Tag gepredigt zu werden?
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.