Ökologie und Ökonomie
Bei den „Zusammenlegungen“ (österreichischer Begriff) bzw. „Flurbereinigungen“ (deutscher Begriff) der 50er bis 70er Jahre war es selbstverständlich, dass man Bäche begradigte, Tümpel zuschüttete und Feuchtareale trockenlegte. Möglichst viel von dem Gebiet, das der Neugestaltung unterlag, sollte landwirtschaftlich genutzt werden. Möglichst wenig Fläche sollte „nutzlos“ bleiben und „verschwendet“ werden. Alles wurde unter der Perspektive des Nutzens betrachtet, und zwar des direkten landwirtschaftlichen Nutzens für den Menschen. Den ökologischen Nutzen oder den Nutzen für andere Geschöpfe hatte man damals nicht im Blick.
Historisch hat diese starke Konzentration auf den menschlichen Nutzen sicher mit den Erfahrungen von Hunger und Lebensmittelknappheit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu tun. Die meisten Menschen hatten diese Notzeiten selbst miterlebt und wollten auf keinen Fall, dass diese sich nochmals wiederholten. Und so war man bemüht, alles zu tun, um den Ertrag der Äcker auf ein Maximum zu steigern. Außerdem gab es damals in puncto Ökologie noch ein großes Unwissen. Als eigenständige Disziplin der Biologie war diese noch gar nicht richtig etabliert. Der ästhetische Wert eines Tümpels oder einer Feuchtwiese wurde von NaturschützerInnen zwar bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts wahrgenommen, der ökologische Wert hingegen erst gegen Ende dieses Jahrhunderts. Heute wissen wir um die vielfältigen Funktionen, die ein unscheinbarer Tümpel haben kann.
Den Schöpfungsbericht neu lesen
Auf diesem Hintergrund haben wir ChristInnen seit den 80er Jahren auch gelernt, die Schöpfungserzählungen neu und anders zu lesen: Nicht mehr als Freibrief für menschliche Herrschaft über die Natur, wie wir das seit dem 17. Jahrhundert taten, sondern so, wie sie ursprünglich gemeint waren: Als Auftrag zur Hege und Pflege und zur gütigen Sorge um das wunderbare Lebenshaus der Schöpfung. Im Sieben-Tage-Werk wird uns auf kunstvolle Weise erzählt, wie alle Geschöpfe in diesem Haus einen Platz finden. Die Tiere, die Gott am fünften Tag erschafft, erhalten ihren Platz in den Lebensräumen des zweiten Tages, nämlich Wasser und Luft. Und die Tiere, die Gott am sechsten Tag erschafft, erhalten ihren Platz in den Lebensräumen des dritten Tages, also auf dem festen Land. Alle sollen leben können, alle sollen Nahrung haben, alle sollen fruchtbar sein und sich vermehren. Alle sind von ihrem Schöpfer gesegnet.
Aber gerade für die Wassertiere findet das Buch Genesis eine besonders schöne Formulierung: Gott spricht: „Das Wasser wimmle von lebendigen Wesen!“ (Gen 1,20) Man kann es förmlich wimmeln sehen, wenn man den Satz liest: Ob man dabei an eine Schar Delfine denkt oder an einen Schwarm Fische oder an die unermessliche Zahl vieler winziger Kaulquappen, die soeben erst aus dem Laich geschlüpft sind. Im Wasser wimmelt es – ein Bild für den Überfluss an Leben, der hier entsteht. Und wir wissen ja: Auch unserer Vorfahren in der Evolutionsgeschichte haben – wenn wir nur weit genug zurückgehen – im Wasser gelebt. Das Leben des Planeten Erde entstand im Wasser.
Lebensraum Gewässer
„Lebensraum Gewässer“ heißt das Motto der diesjährigen Schöpfungszeit. Nach dem Lebensraum Wald 2011 und dem Lebensraum Kulturland 2012 schauen wir heuer auf einen dritten, ebenso wichtigen Lebensraum. Es ist ein Lebensraum, dem der Mensch vergleichsweise wenig Nahrung entnimmt – abgesehen vom Meer und künstlich angelegten Zuchtteichen. Das Fischen und Angeln in Bächen, Flüssen und Seen ist heute mehr Freizeitbeschäftigung als Broterwerb. Und dennoch – oder gerade deswegen – haben die Gewässer viel mit Erntedank zu tun: Denn das heutige Fest erinnert uns daran, dass wir derzeit in der glücklichen Lage sind, mehr als genug für unsere Ernährung zu ernten. Und weil das so ist, dürfen wir unseren Mitgeschöpfen – zu Land, in der Luft und eben auch im Wasser – etwas übrig lassen. Der Schöpfer hat uns reich beschenkt, hat uns mit vollen Händen gegeben, da sollten auch wir die Hände öffnen und das ein oder andere weiterschenken. Es wäre in höchstem Maße undankbar, wenn wir in unserer Überflussgesellschaft noch genauso auf den ökonomischen Nutzen jedes Quadratmeters fixiert wären wie in Notzeiten.
Seit den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts laufen die „Zusammenlegungen“ (österreichischer Begriff) bzw. „Flurbereinigungen“ (deutscher Begriff) deutlich anders ab als vorher: Bäche dürfen freier fließen und werden ggf. sogar renaturiert, Tümpel und Feuchtareale werden erhalten, soweit sie noch vorhanden sind, und neu angelegt, wo es sich von den Geländeformen und Bodenverhältnissen her anbietet. Wir wissen vom Nutzen solcher Kleingewässer für die Ökologie. Und von intakten Ökosystemen profitieren nicht nur die dort lebenden Lebewesen, sondern letztlich auch wir Menschen. Denn auch wir sind angewiesen auf ein einträgliches Miteinander im großen Lebenshaus der Schöpfung.
© Prof. Michael Rosenberger, Linz
Anmerkung: Das Motto des Erntedanksonntags wurde übernommen von der OeKU, der ökumenischen Arbeitsstelle Kirchen und Umwelt in der Schweiz. Bei dieser Stelle können unter www.oeku.ch auch weitere Materialien zum Thema und für die Schöpfungszeit vom 1.9. bis zum 4.10. bezogen werden.