"Der Durchschnitt ist zu wenig"
In seinem neuen Buch "Die Durchschnittsfalle" rechnet der Humangenetiker Dr. Markus Hengstschläger mit dem Bildungssystem ab: Eine Gesellschaft, die sich am Durchschnitt orientiere, sei nicht gerüstet, um wichtige Fragen der Zukunft lösen zu können. Er ruft dazu auf, Talente und Stärken vermehrt zu fördern, denn es braucht mehr Individualität und Menschen, die aus der Masse herausstechen, statt nur mit dem Strom mit zu schwimmen. Jede und jeder ist eine Elite, so der Wissenschaftler. Ein zutiefst christlicher Blick auf den Menschen. Im Anderen, im Kleinen und Unscheinbaren das Große und Besondere zu sehen, ist auch der Blick, mit dem uns Gott ansieht. Und ist dies nicht auch der Blick eines Simeon und einer Hanna im heutigen Evangelium? Und der von Maria und Josef, die ihr Kind frei geben für die je eigene Berufung?
Maria und Josef
Wie alle jüdischen Eltern bringen Maria und Josef Jesus 40 Tage nach seiner Geburt in den Tempel und weihen ihn Gott. Sie wollen damit treu das Gesetz erfüllen: Beschneidung des Kindes, Darstellung vor dem Herrn, Darbringen von Opfergaben für die kultische Reinigung der Mutter - wie es Vorschrift ist in Israel. Etwas vom Tiefsten der jüdischen Religiosität kommt hier zum Ausdruck: das Erste, Beste, Wertvollste ist für Gott gerade gut genug.
Das Kind dem Herrn weihen bedeutet: es aus der Hand geben, es Gott geben. Nicht ihre Wünsche und Vorstellungen sollen sein Leben bestimmen, sondern die Pläne Gottes. So erfüllen Maria und Josef mit dem Gang in den Tempel nicht nur ihre religiöse Pflicht, sondern erkennen auch an: Dieses Kind, unser Kind, gehört nicht allein uns. Dieses Kind gehört eigentlich Gott. Von ihm haben wir es als Geschenk erhalten. Dieses Kind ist ein Kind Gottes! Und irgendwann, wenn es älter geworden ist, werden wir dieses Kind hergeben müssen, es loslassen, es in sein Leben entlassen, damit es sich selbständig entfalten und sein Leben in eigener Verantwortung führen kann
Simeon und Hanna sehen mehr
Im Tempel treffen sie auf Simeon und Hanna, hoch betagte Repräsentanten des Volkes Israel, die in dem Kind den sehnsüchtig erwarteten Erlöser erkennen.
Im Blick auf dieses Kind ruft Simeon den Satz aus, den die Kirche jeden Abend in der Komplet, dem Nachtgebet, betet: "Nun lässt du Herr, mich in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast ..."
"Simeon" = "Gott hat erhört" oder: "Gott ist Erhörung". Es ist ihm zugesagt, noch bevor er stirbt, "den Trost Israels zu schauen." Im Kind Jesus erkennt er die Erfüllung aller Hoffnungen und Verheißungen des Ersten Testaments.
"Er nahm das Kind in seine Arme" so heißt es. Seine Hoffnung hat Hand und Fuß bekommen. Gott - leibhaftig in diesem Kind, hautnah in seinen Armen. Der alte Mann und das Neugeborene, der scheidende Prophet und der kommende Retter. Beginn und Vollendung, Leben am Ende umarmt Leben am Anfang.
Weil er Augen hat für das Verborgene, Kleine und Unscheinbare, kann er Abschied nehmen, im tiefen Frieden mit sich, den Menschen und Gott.
Hanna ("Gott hat sich erbarmt") - Lukas bezeichnet sie als Prophetin - bestätigt das Zeugnis Simeons.
Hannas Leben war kein leichtes Leben. Nur wenige Jahre war ihr das Glück der Ehe vergönnt. Jahrzehnte, fast ihr ganzes Leben hat sie als Witwe gelebt. Witwen gehörten damals zu den schutzlosesten und am meisten benachteiligten Bevölkerungsschichten. Dazu kam die seelische Not: Trauer, Enttäuschung, die Erfahrung der Einsamkeit, der Schmerz des Alleinseins. Doch ist sie an den schmerzhaften Erfahrungen ihres Lebens nicht zerbrochen. Die Schicksalsschläge haben sie nicht von Gott weggebracht, sondern näher zu ihm hingeführt. Bis ins hohe Alter hatte sie nicht aufgehört, die "Erlösung Israels" herbeizusehnen, den Befreier, der auch ihr Erlösung bringen sollte. Im Gott Loben bezeugt sie dieses Kind als den ersehnten Retter, der von Schuld befreit, die Gebeugten aufrichtet und alle Gebrechen heilt. Wenn es von Hanna heißt, sie habe zu allen, die auf die Erlösung warten, über das Kind gesprochen, so wird sie damit Verkünderin der Erlösungstag Gottes und Lukas stellt sie gleichsam in die Reihe der Apostel.
Simeon und Hanna, zwei Menschen, die trotz ihres Alters Hoffende geblieben sind. Menschen, die wachsam beobachten, was geschieht, um den "Kairos" ihres Lebens nicht zu versäumen. Sie vertrauen darauf, dass immer noch Größeres geschehen kann in ihrem Leben.
Als ehemalige Altenheim- und derzeitige Krankenhausseelsorgerin steigen in mir Bilder auf: Alte und Kranke, die in Krankheit oder im Angesicht des Todes ein Leuchten in den Augen haben. Menschen, die voller Dankbarkeit auf ihr Leben blicken und voller Erwartung sind, die mich an ihren Visionen teilhaben lassen. Menschen, die trotz schwerer Schicksalsschläge nicht resignieren. Ich frage mich manchmal, woher nehmen diese Menschen die Kraft? Woher nimmt ein Simeon die Kraft und die Geduld, sein Warten durchzuhalten über Jahre und Jahrzehnte? Was hat Hannas Sehnsucht wach gehalten? Wie erkannte sie in diesem Kind den erwarteten Messias?
Wie Simeon und Hanna schauen lernen
Simeon und Hanna erwarten das Heil nicht von der Vergangenheit, sondern sie erwarten es in der gegenwärtigen Stunde, im Hier und Jetzt.
In der Seelsorge begegne ich immer wieder Menschen, die glauben und darauf vertrauen, dass sich in ihrer gegenwärtigen oftmals lebensbedrohlichen Situation Gottes Heil und Zuwendung zeigt und dass sie daraus Kraft schöpfen.
Wie Simeon und Hanna schauen lernen, heißt für mich, den "Elitemenschen" in meinem Gegenüber zu sehen. Was Dr. Hengstschläger für die Bildung allgemein fordert, geben uns Hanna und Simeon als Grundprogramm für die Pastoral vor.