Lesung aus dem Buch Amos.
In jenen Tagen
sagte Amázja, der Priester von Bet-El, zu Amos:
Seher, geh, flieh ins Land Juda!
Iss dort dein Brot
und prophezeie dort!
In Bet-El darfst du nicht mehr prophezeien;
denn das hier ist das königliche Heiligtum und der Reichstempel.
Amos antwortete Amázja:
Ich bin kein Prophet und kein Prophetenschüler,
sondern ich bin ein Viehhirte
und veredle Maulbeerfeigen.
Aber der Herr hat mich hinter meiner Herde weggenommen
und zu mir gesagt:
Geh und prophezeie meinem Volk Israel!
(Lektionar 2018 ff. © 2024 staeko.net)
Im 8. Jahrhundert ist das Reich Davids bereits in ein Nordreich (Israel) und ein Südreich (Juda) aufgeteilt. Im Süden, in der Hauptstadt Jerusalem, regieren weiterhin die Könige aus der Dynastie Davids. Im Norden wird der König, wie zu Davids und Sauls Zeiten, durch Wahl bestimmt. Das Land ist reicher und fruchtbarer als der Süden – und darum auch stärker bedroht von seinem starken Nachbarn, dem assyrischen Großreich. Schon Generation nach dem Wirken des Amos, 722 v. Chr., wird das Nordreich Israel von den Assyrern erobert und hört auf zu existieren.
Aber noch ist es nicht soweit. Zur Zeit des Amos, unter König Jerobeam II., erlebt das Nordreich Israel eine ungeheure wirtschaftliche Blüte. Gleichzeitig vertieft sich die soziale Kluft: Der wachsende Wohlstand der reichen Großgrundbesitzer hebt sich immer mehr von den Kleinbauern und Tagelöhnern ab. Außerdem folgt die herrschende Schicht immer weniger den "altmodischen" Jahwe-Überlieferungen, sondern orientiert sich mehr und mehr an der "vornehmeren" Kultur der Kanaanäer und Assyrer. Offensichtlich auch in religiöser Hinsicht – Ausgrabungen aus dieser Zeit belegen, dass es in fast einem Drittel der Haushalte kleine weibliche Götterfiguren gab. Man betete nicht mehr allein zu Jahwe.
In dieser Situation erlebt Amos, ein Vieh- und Maulbeerfeigenzüchter aus der Nähe von Betlehem, dass Gott ihn als Mahner und Rufer nach in den Norden schickt. Dort soll er das Volk aufrütteln und daran erinnern, was es heißt, Jahwe zu verehren: Der wahre Gottesdienst geschieht nicht in erster Linie durch Opfer und Kulthandlungen im Tempel, sondern durch gerechte Rechtsprechung und achtungsvolle, menschenwürdige Behandlung der Armen und Schutzlosen im Land. Darin hat Israel versagt und Gottes Rechtsordnung verletzt, stellt der Prophet Amos ungeschminkt fest. Diese himmelschreienden sozialen Zustände werden nicht ohne Folgen bleiben – auch wenn die Satten und Reichen sich darin wohlfühlen und keinen Änderungsbedarf sehen mögen. Letztlich, so die nüchterne Analyse des Propheten, werden Ausbeutung und der Zerfall des alten Zusammenhalts das Nordreich Israel zerstören. Eine Generation später ist es dann so weit.
Solche Androhungen, noch dazu von einem Mannes aus dem Süden, werden im Nordreich nicht gerne gehört, vor allem nicht in Bet-El, dem Reichsheiligtum des Nordreichs. Der Tempel von Bet-El ist nicht Hyde Park Corner in London, wo jeder predigen kann, was ihm gerade einfällt. Hier leben außer den Priestern auch eine festangestellte Kaste von Propheten, die den König beraten und ihm weissagen. Da sie von ihm abhängig sind, weissagen sie natürlich eher, was man "Oben" gerne hört. Amos ist dagegen kein "gelernter" Prophet von Berufs wegen, wie die Tempelpropheten von Bet-El ("ich bin kein Prophet und kein Schüler eines Propheten", sagt er), sondern ein Prophet aus Berufung. Er ist niemandem außer Jahwe verpflichtet, das aber ganz und gar. Der Ruf seines Gottes hat ihn aus seinem geruhsamen Dasein herausgerissen, in eine fremde und ihm feindliche Umgebung getragen und ihn Spott und Widerstand ausgesetzt.
Amos, ein Mann der es – um Gottes willen – unbequem hat. Ein unbequemer Mann auch für andere, der eine unbequeme Botschaft verkündet, und dafür büßen muß. Amazja, der Priester des Heiligtums, denunziert ihn bei König Jerobeam, weist ihn aus dem Tempel und legt ihm nahe, doch statt dessen den Bewohnern von Juda auf die Nerven zu gehen.
Ist Amos gescheitert? Wie lebt er mit seinen Erfahrungen in Bet-El? Ist er nach Tekoa zu seinen Maulbeerfeigen zurückgekehrt? Das Buch Amos schweigt darüber.
Wie auch immer es mit ihm weiterging – ich denke, dass ein Mann, der sich so unbedingt seinem innersten Ruf anvertraut hat, mit sich und seinem Gott im Frieden lebte.
Den Abschluss des Amosbuches bilden 5 Visionen des Propheten. Die Lesung bringt einen Einschub in der dritten Vision (Verse 10-17), in dem Amos nicht selbst spricht; es ist ein Bericht über seine Ausweisung. Amos soll aufgrund seiner Unheilsprophetie gegen Israel das Land verlassen.
Im Ausschnitt der Lesung wird die Frage des Rechtes zum prophetischen Reden angesprochen. – Amos selbst hat das herrschende System in Frage gestellt: Dass die funktionierende Wirtschaft und der Handel seiner Zeit nur einigen wenigen, nicht aber der Bevölkerung zu Gute kam. Deshalb kündete er den Untergang der Regierung an. Für ihn muss sich der Jahweglauben auch im tatsächlichen Handeln ausdrücken (also auch im gerechten Verteilen des Wohlstands).
In Amos 7,10-17 wird zuerst die Sicht des Amazja hinsichtlich der Prophetie dargestellt: es ist ein staatlicher Beruf (Verse 10-13); für Amos hingegen (Verse 14-17) ist der Prophet ein von Gott Berufener.
Der Prophet Amos ist der älteste Schriftprophet (ab 760 v. Chr.). Das hebräische Wort für Prophet "nabi" geht in seiner Grundbedeutung weit über unser Prophetenverständnis hinaus. Es ist aktivisch und passivisch zugleich und könnte mit "berufener Rufer" übersetzt werden. "nabi" bezeichnet den von Gott auserwählten und bevollmächtigten Ausrufer und Boten des Gotteswillens. Die Propheten sollten dem Volk und den Verantwortlichen Heil oder Gericht verkünden, und konnten, indem sie im Namen Jahwes für das Gottesrecht, das heißt für die gottgewollten Menschenrechte der Schwächeren eintraten, zu unerbittlichen Kritikern der führenden Schicht des Volkes werden.
Mit einer sehr gesellschaftskritischen Botschaft wird auch Amos zur Zeit der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Blüte des Nordreiches Israel unter König Jerobeam II. (ca. 785-745 v. Chr.) von Gott beauftragt. Mit harten Worten kritisiert er das Luxusleben der Reichen, die die wirtschaftlich und sozial Schwächeren ausbeuten und unterdrücken. Mit seinem Ansatz: "Wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden, kann man sich auch mit den schönsten kultischen Feiern und den reichsten Schlachtopfern die Zuwendung Gottes nicht erkaufen" schafft er sich sehr viele Feinde, so daß er schon kurze Zeit nachdem er von seinem Heimatort Tekoa im Südreich, nahe bei Bethlehem von Gott weggerufen und als Prophet ins Nordreich gesandt wurde, wieder ausgewiesen wird.
Der Konflikt Amazja - Amos
Nach konkreten Anklagen, Strafansagen und Gerichtsreden beginnt im 7. Kapitel ein Zyklus mit 5 Visionen des Propheten. Die erste Vision verkündet den Untergang Israels im Bild einer Heuschreckenplage (Am 7,1-3), die zweite im Bild einer Feuersglut (Am 7,4-6), doch immer wieder verschont Gott das Volk. In der dritten Vision dürfte es sich nicht um ein Senkblei handeln, wie die Einheitsübersetzung deutet, sondern Amos schaut Gott, der auf der Stadtmauer steht und eine Art "Zinnschwert" in der Hand hält, als Symbol der kriegerischen Vernichtung des Volkes (Zenger, Erich, Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 1995, 390)
Auf diese Visionen hin verklagte Amazja, der Priester von Bet-El wo Amos wirkt, den Propheten bei König Jerobeam. Amos bekommt Redeverbot und wird ausgewiesen.
Von Gott berufen
In dieser Situation unterstreicht Amos seine göttliche Sendung: Er ist kein bezahlter Tempel- und Hofprophet, auch kein Prophetenjünger aus einer Prophetenschule. Aus seinem Beruf und seiner gewohnten Umgebung wurde er herausgerufen, um für die Verwirklichung von Recht und Gerechtigkeit zu kämpfen. Als Bauer mit eigener Vieh- und Maulbeerfeigenzucht besaß er wahrscheinlich einen gewissen Wohlstand. Die Unabhängigkeit und das Selbstbewußtsein, mit der er auch in dieser Konfliktsituation auftritt, sowie die Tradition des nach ihm benannten Buches, die die bäuerliche Sprach- und Bilderwelt gut bewahrt hat, bestätigen diese Angaben.
Als von Gott beauftragter Prophet kann er sich nicht nur die schönen und angnehmen Seiten aussuchen und darf sich nicht von der menschlichen Meinung, auch wenn sie vom König selbst stammt, abhängig machen. Amos hat keine andere Wahl als seinen Hals zu riskieren und dem Volk weiterhin vor Augen zuführen was passiert, wenn es die gesellschaftlichen Mißstande nicht behebt.
Nach allen Drohungen und Gerichtsansagen endet das Buch Amos trotzdem mit einer Heilszusage. Alle Kritik die der Prophet übt, ist ausgerichtet auf die Utopie eines göttlichen Reiches hier auf der Erde. Darum ist nicht die Vernichtung des Volkes das Ziel des Propheten, sondern die Umkehr des Volkes und das Eingreifen Gottes, das die gerechten Zustände herstellen wird.
Antonia Keßelring (2003)
Johann Pock (2000)
Regina Wagner (1997)