Lesung aus dem Buch Genesis.
Die ganze Erde hatte eine Sprache
und ein und dieselben Worte.
Als sie ostwärts aufbrachen,
fanden sie eine Ebene im Land Schinar
und siedelten sich dort an.
Sie sagten zueinander: Auf, formen wir Lehmziegel
und brennen wir sie zu Backsteinen.
So dienten ihnen gebrannte Ziegel als Steine
und Erdpech als Mörtel.
Dann sagten sie: Auf, bauen wir uns eine Stadt
und einen Turm mit einer Spitze bis in den Himmel!
So wollen wir uns einen Namen machen,
damit wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen.
Da stieg der HERR herab,
um sich Stadt und Turm anzusehen,
die die Menschenkinder bauten.
Und der HERR sprach: Siehe, e i n Volk sind sie
und e i n e Sprache haben sie alle.
Und das ist erst der Anfang ihres Tuns.
Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein,
wenn sie es sich zu tun vornehmen.
Auf, steigen wir hinab
und verwirren wir dort ihre Sprache,
sodass keiner mehr die Sprache des anderen versteht.
Der HERR zerstreute sie von dort aus über die ganze Erde
und sie hörten auf, an der Stadt zu bauen.
Darum gab man der Stadt den Namen Babel, Wirrsal,
denn dort hat der HERR die Sprache der ganzen Erde verwirrt
und von dort aus hat er die Menschen
über die ganze Erde zerstreut.
Die Erzählung vom so genannten "Turmbau zu Babel" wurde traditionell so ausgelegt, dass sich die planenden und bauenden Menschen durch Hochmut schuldig machten und dafür von Gott mit der Verwirrung der Sprachen und Zerstreuung über die ganze Erde bestraft wurden. Der biblische Text selbst bietet für eine solche moralische Deutung allerdings keine direkten Anhaltspunkte. Literarisch kunstfertig wird hier das Phänomen "Sprache" aufgearbeitet in seiner ganzen Spannung zwischen der realen Erfahrung von Sprachen als Hindernis des Sich-Verstehens einerseits und der gottgewollten Funktion von Sprache als Mittel gelungener Verständigung in Gemeinschaft andererseits. Dabei umfasst "Sprache als Quelle von Missverständnissen" nicht nur die Schwierigkeiten, die mit verschiedenen Landessprachen verbunden sind und multikulturelle Gesellschaften heute immer mehr herausfordern. Selbst unter Menschen gleicher Muttersprache, also mit gemeinsamer Sprachgeschichte und grundlegendem Konsens über Wortbedeutungen, spricht jede und jeder eine individuelle Sprache: Jedes Wort ist mit persönlicher Erfahrung codiert, das heißt, beim Gebrauch eines Wortes schwingt immer die je eigene lebensgeschichtliche Erfahrung mit. Darüber hinaus können Worte nur bruchstückhaft den inneren Sinndialog, die innere Suche einer Person nach dem Sinn ihres Lebens, ausdrücken. Daher verbindet jeder Mensch mit Begriffen wie "Glück", "Krankheit" oder "Liebe" ganz unterschiedliche Erfahrungen und Gefühle. Soweit die heutige Sprachwissenschaft zu dem, was die Turmbauerzählung anschaulich mit "Verwirrung der Sprache" darstellt: Wo Menschen nur sich selber sehen und in ihrer eigenen Vorstellungswelt verhaftet bleiben, reden sie aneinander vorbei und Verständigung misslingt. Dies hat schließlich Verwirrung und Trennung zur logischen Folge (nicht als Strafe Gottes).
Gott aber will für uns Menschen gelungene Kommunikation, die echte Gemeinschaft ermöglicht. So schildert es außer dem Anfang der Turmbauerzählung auch das Evangelium vom Pfingsttag (Apg 2,1-12): Gottes Geist bewirkt, dass völlig fremde Menschen einander verstehen. Dieses gegenseitige Verstehen und Verstanden werden bleibt dabei nicht auf die Ebene gleicher Vokabeln beschränkt, sondern ist so tief greifend, dass die Menschen durch diese neuartige Erfahrung zunächst tief "bestürzt" und verwirrt sind und daraus eine neuartige Gemeinschaft entstehen kann.
Solche Augenblicke geglückter Verständigung, "dass einer meine Sprache spricht", dürfen Menschen immer wieder einmal erleben. Einander offen und liebevoll zuzuhören ist eine notwendige, nicht aber hinreichende Vorraussetzung dafür. Darüber hinaus lässt sich eine solche Erfahrung auch heute als "Gnade", Gottesgeschenk, Pfingstereignis deuten.
Im alltäglichen Miteinander aber stoßen Menschen schnell an die Grenzen ihrer sprachlichen Verständigung. Das können auch Kommunikationstrainings und guter Wille letztlich nicht ausmerzen, weil es eben teilweise wie oben beschrieben im Phänomen Sprache selbst begründet ist. So bleibt die tiefe menschliche Sehnsucht, so wie ich bin und mich selbst und das Leben sehe, verstanden zu werden, im Letzten noch unerfüllt.
Diese Spannung von manchmal schon erfahrenem Vorgeschmack gelungener Gemeinschaft und noch ausstehender Vollendung kennzeichnet den Vorabend des Pfingstfestes und wird in der 2. Lesung (Röm 8,22-27) in anschaulichen Bildern von Schwangerschaft und Geburtswehen beschrieben: Die ganze Welt, auch die Christen, leiden an den Schwächen, Grenzen und Unvollkommenheiten des Lebens und sehnen sich nach Erlösung (VV 22-23). Den Christen aber - so die frohe Botschaft des Paulus - ist der Geist schon geschenkt. So dürfen sie "guter Hoffnung sein" und geduldig ausharren - wie eine Frau, der in den Schmerzen der Geburtswehen der Gedanke an ihr Kind Kraft schenkt durchzuhalten, bis das neue Leben geboren ist.
Das Wirken des Geistes Gottes beschreibt Paulus dabei folgendermaßen: "Der Geist tritt jedoch für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können." (Vers 26b) Entscheidend sind hier also nicht die Worte, sondern das Gemeinte, das Gott auch ohne Worte versteht. Sich ohne Worte verstehen und verstanden werden ist ebenfalls eine Erfahrung, die Menschen immer wieder einmal erleben können: sei es zwischen Liebenden, im Umgang mit einem Baby oder einem schwer kranken Menschen. Jenseits aller Worte schaffen hier Lächeln, Mitweinen, Berührung und konkrete Hilfe tiefe Beziehung. Das relativiert die Bedeutung von Sprache und hebt die Rolle der inneren Haltung dem anderen gegenüber hervor.
© Claudia Simonis-Hippel, in: Bernhard Krautter/Franz-Josef Ortkemper (Hg.), Gottes Volk Lesejahr C5/2010. Verlag Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2010.
Claudia Simonis-Hippel (2013)