Blockiert durch Erwartungen
Vor gut 400 Jahren hatte eine Frau, Mary Ward ihr Name, eine Vision. Sie hatte die Vision, dass Mann und Frau gleichwürdige und damit gleichwertige Geschöpfe sind. Weil sie von ihrer Vision überzeugt war, darum förderte sie junge Frauen, ihre Talente und Fähigkeiten. Viele Schulen in der ganzen Welt haben in dieser Vision der Mary Ward, ihren Ursprung. Wenn heute, zumindest vom Kopf her, vielen Menschen bewusst ist, dass Frauen für Tätigkeiten ebenso geeignet sind, wenn sie gleichberechtigt sind, dann war Mary Ward sicher ein sehr wichtiger Schritt von vielen Schritten. Mary Ward handelte und dachte ganz anders als viele Menschen ihrer Zeit.
Menschen werden oft festgelegt auf die Erwartungen ihrer Umwelt aufgrund ihrer Herkunft. So war es über Jahrhunderte Frauen ergangen. Jesus - das hören wir heute im Evangelium - ist das nicht anders ergangen. Er ist in Nazareth aufgewachsen. Mit vielen jungen Männern ist er zur Schule gegangen. Er hatte wie die meisten jungen Männer ein Handwerk gelernt. Wie bei allen anderen Menschen hatten die Menschen seiner Umgebung auch an Jesus Erwartungen. Doch Jesus entwickelt sich ganz anders. Er hatte seine Berufung. Jesus aber muss feststellen: sehr leicht legen wir einander fest auf Erfahrungen, auf das, was man von einem anderen zu wissen glaubt. "Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns, wohnen nicht seine Verwandten unter uns? Und sie lehnten ihn ab!" Jesus kann keine Wunder tun. Er ist blockiert, gehemmt in seinem Verhalten. Als Konsequenz muss er seinen Heimatort verlassen. Dass Gott in diesem gewöhnlichen Menschen spricht, das ist einfach unvorstellbar.
Alles soll weitergehen wie bisher
Ich sehe eine ganz wichtige Ursache in dem Verhalten der Menschen. Sie haben sich ihr Leben eingerichtet. Alles läuft mehr oder weniger gut. Sie haben sich aber so gut eingerichtet, dass sie vom Leben eben nichts mehr erwarten. Es kann ruhig so weitergehen wie bisher. Auch im religiösen Leben kann es so weitergehen. Wir gehen ja regelmäßig in die Synagoge, heute gehen wir ja in die Kirche. Da hören wir das Wort Gottes. Anschließend gehen wir zu unseren Alltagsgeschäften zurück. Ganz ehrlich - erwarten wir noch etwas von Gott. Erwarten wir von Gott, dass er zu uns spricht, dass Gott uns noch begegnet?
Wir sind eben in dieser Gefahr, dass wir nicht nur unsere Mitmenschen auf unser Urteil, auf das Bild, das wir uns einmal von ihnen gemacht haben, festlegen, sondern eben auch Gott. Gott ist der ganz andere. Wir in Europa kennen Jesus, wir kennen die Bibel, wir haben unzählige Religionsstunden absolviert, viele Predigten gehört. Wir können damit leben, dass wir in der Bibel Forderungen lesen, wie Feindesliebe. Ich selbst aber bin ganz ehrlich: bei nicht wenigen Stellen in der Bibel schalte ich entweder ab oder höre ich nur noch halbherzig hin. Denn so manche Stelle ist zu bekannt, als dass sie noch spannend ist. Da greife ich noch einmal den Gedanken heraus, dass mir einige Stellen der Bibel so bekannt sind, dass ich schon gar nicht mehr richtig hinhöre. Wie oft machen Menschen aber auch diese Erfahrung: man hört jahrelang eine Bibelstelle, ein Wort, einen Spruch und plötzlich geht einem auf, was das Wort bedeuten kann.
Veränderung?
Nein - ich bin nicht besser als die Menschen in der Heimatstadt Jesu. Ich staune über die Worte, finde vieles auch gut, aber Hand aufs Herz: glaube ich selbst noch, dass mich ein Wort Jesu verändern kann, wo es für mein Leben notwendig wäre. Doch genau das hat Jesus mit seinen Worten immer gewollt. Er wollte die Menschen froher machen. Richtet euch euer Leben ein, aber vergesst Gott nicht. Mein Leben muss dabei nicht immer spektakulär sich verändern. Es müssen auch nicht immer bekannte und prominente Menschen sein. Es braucht auch nicht immer eine sehr gute Predigt zu sein, die ich höre. Es gibt viele Wege, auf die Gott zu mir sprechen kann. Ich muss nur bereit sein, zu hören.
Hinderliche Selbstbilder
Nun habe ich die ganze Zeit darüber gesprochen, dass wir Gott und die Mitmenschen auf unser Bild festlegen können. Wir können zeit unseres Lebens Gott niemals ganz erfassen. Wir werden einen Mitmenschen auch nie ganz kennen lernen. Sicher ist es manchmal auch bitter, wenn die Mitmenschen mich selbst auf ihr Bild festlegen. Wen wir uns aber selbst festlegen können auf unser Bild, sei es im Guten, sei es im Schlechten, das sind wir selbst. Auch von uns selbst haben wir ein Bild. Damit aber verpassen wir Lebenschancen. Gott hat in uns vieles gelegt. Wir haben in uns viele Talente, viele Begabungen.
Mir hat einmal ein Spruch sehr viel Mut gemacht: "Du hast mehr Möglichkeiten als du denkst, ganz zu schweigen von den unendlichen Möglichkeiten Gottes mit dir!" Wir kennen uns selbst nur zum Teil. Gott kennt uns bis auf den Grund. Je mehr ich über Gott erfahre, um so mehr erfahre ich auch über mich selber. Ich brauche mich nicht für alles und jedes zu interessieren. Doch ich kann immer offen sein, dass Neues in mein Leben eintritt, neue Begegnungen mit Menschen. Ich kann nicht meine Lebenseinstellung stets ändern, aber ich kann die Lebenseinstellungen anderer kennen und schätzen lernen, ich kann mich von ihnen bereichern lassen. In der Begegnung mit anderen kann ich erfahren, wer ich selber bin.
Gottes spannender Weg mit uns
Es kann nicht jeder bekannt werden im Leben. Vielleicht aber spüre ich, welche Vision Gott in mich selbst gelegt hat, wenn ich offen für mich selber bin, wenn ich mich selbst nicht festlege. Das heraus zu finden, war auch das Ziel von Mary Ward: welche Vision hat Gott in den Frauen gelegt. Ja, was bewegt mein Verhalten? Das Evangelium zeigt uns: wenn wir entdecken, was für Visionen Gott in uns gelegt hat, dann muss das nicht immer den Erwartungen der Menschen entsprechen. Es kann auch sein, dass wir, um Visionen leben zu können, uns von Gewohnheiten lösen müssen, dass wir nicht verstanden, ja abgelehnt werden von Mitmenschen, dass wir uns im Laufe des Lebens von Mitmenschen trennen müssen, wie es bei Jesus der Fall war. Es ist aber nicht notwendig immer der Fall. Der Weg, den Gott mit uns geht, ist immer spannend.
Das war auch beim Apostel Paulus der Fall. Als Jesus in sein Leben eingegriffen hat, hatte er die Vision, den Heiden die Frohe Botschaft zu bringen. Was er erfahren musste und durfte: Dass Gott gerade in der Schwachheit der Menschen wirken kann, dass es eben nicht immer darauf ankommt, stark zu sein, dass wir uns vor Gott nicht wegen unserer Leistung rühmen können. Ich glaube, für viele Menschen, die Gott im Laufe ihres Lebens entdecken, ist das eine wunderbare Entdeckung: ein Gott, der die Menschen mit ihren Schwächen annimmt.
Ich wünsche uns allen, dass wir nicht zu den Menschen gehören mit trotzigem Gesicht und dem harten Herzen. Sind wir nicht widerspenstig. Gott wirkt mitten unter uns. Erwarten wir für unser Leben immer wieder Neues zu erwarten, von Gott, von Mitmenschen und vor allem: von uns selbst.
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