Ins "Haus des Brotes"
Im heutigen Lesungstext zieht die junge Witwe Rut fort aus ihrer Heimat in ein fremdes Land, um ihre Schwiegermutter zu begleiten. Sie gehen nach Bethlehem, was übersetzt "Haus des Brotes" bedeutet. Ins "Haus des Brotes", in Länder, wo es Brot, Arbeit und Sicherheit gibt, ziehen auch heute Scharen von Menschen, die ihr Zuhause verlassen, als Wirtschaftsflüchtlinge und Asylsuchende. Oftmals finden sie nicht, was sie suchen. Denn der reiche Norden und die westliche Kultur schotten sich ab gegen Menschen des Ostens und des Südens. Gerechtigkeit und Solidarität sind auch bei uns heute oft Fremdwörter.
Ein Migrantinnenschicksal
Das Matthäusevangelium beginnt am Heiligen Abend mit dem Stammbaum Jesu. Unter vielen Männernamen sind auch ein paar Frauen verborgen. So schauen wir heute auf Rut, die Urgroßmutter Davids und damit Urahnin des Messias Jesus von Nazareth. Das Buch Rut schildert uns das Schicksal einer Familie in Migration. Ein Mann aus Bethlehem geht wegen einer Hungersnot ins Ausland. Mit seinen beiden Söhnen und seiner Frau Noomi bricht er auf ins benachbarte Moab. Beide Söhne (also die zweite Generation) heiraten dort einheimische Frauen, die Moabiterinnen Orpa und Rut. Aber dann sterben alle drei Männer, der alte und die beiden jungen.
Die drei nun alleinstehenden Frauen haben keine eigene Existenz und müssen neuerlich fort. Man hört, in Bethlehem soll es wieder besser sein. Es kommt also zu einer zweiten Migration. Noomi will als alte Frau in ihre Heimat zurück, aber ihre Schwiegertöchter schickt sie, wie es im Text heißt, "heim zu ihren Müttern" (Rut 1,8). Die Väter fehlen also, wie auch heute in vielen armen Gegenden der Welt. Männer sind in kriegerischen Auseinandersetzungen umgekommen, sie sind im Gefängnis, oft hunderte Kilometer weit weg in der Arbeit, oder schlicht und einfach zwar in der Nähe, aber nicht präsent. Die Last der Kinderbetreuung und der Existenzsicherung, oft auch für die Alten, liegt allein auf den Schultern von Frauen. Insofern ist das Buch Rut als Erzählung über alleinstehende Migrantinnen auch heute durchaus realistisch.
Freundschaft, Treue, Solidarität, Gnade
Alle Last und alle Gefährdung liegt auf den Frauen, und die einzige verlässliche Kraft, das Band, das Rut und Noomi verbindet, nennt die Bibel "chesed", zumeist übersetzt mit Gnade. Das Wort hat aber eine viel breitere Bedeutung und ist auch unter Menschen wirksam, als eine Gegenkraft zu unseren oft "gnadenlosen" Verhältnissen in Wirtschaft und Gesellschaft. Chesed ist Freundschaft und Treue in der Einstellung und im praktischen Handeln, es steht für vorbehaltlose Zuwendung und dauerhafte Solidarität. Das ist - im Hintergrund der Geschichte - die Haltung Gottes zu den Menschen und - im Vordergrund - die Haltung von Rut zu ihrer Schwiegermutter Noomi. Chesed, die Treue und Solidarität, zieht sich wie ein Leitmotiv durch das Buch Rut. So kommt diese Haltung schließlich auch als Solidarität eines Mannes (und damit als Treue Gottes) auf die junge Frau zurück, von der sie ausgegangen ist.
Doch gehen wir wieder an den Anfang der Geschichte. Die alte Israelitin Noomi, die schon einmal ausgewandert ist, bricht auf in ihre frühere Heimat Bethlehem, wörtlich das "Haus des Brotes". Sie selber hofft, irgendwie dort wieder Fuß zu fassen, aber ihren Schwiegertöchtern Rut und Orpa will sie das Migrantinnenschicksal nicht zumuten. Ihr seid jung, ihr könnt euch neue Männer suchen, meint sie zu ihnen. So kommt es unter Tränen zu einem endgültigen Abschied und Auseinanderfallen der Familie. Orpa folgt dem Rat und bleibt zurück, aber Rut geht mit der Schwiegermutter, die als Alte sonst vielleicht nicht überleben würde. Es bedeutet für die junge Rut nicht nur wirtschaftliche Ungewissheit in einem Land mit fremder Sprache, sondern auch die Konfrontation mit einer neuen Kultur und Religion.
"Wohin du gehst, dahin gehe auch ich…"
Ihre unverbrüchliche Freundschaft zur Schwiegermutter wird im folgenden Ausspruch deutlich: "Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk, dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich, da will ich begraben sein". (Rut 1,16-17) Ein schönes Wort mit tiefgreifenden Konsequenzen. Rut gibt ihre alte Heimat, Identität und Religion auf, um sich unwiderruflich auf eine neue Kultur (dein Volk) und einen neuen Glauben (dein Gott) einzulassen. Sogar den Abschied von ihrer eigenen Schwester Orpa nimmt sie in Kauf.
Es ist eine einsame und folgenschwere Entscheidung für einen Weg ins Ungewisse, in der Hoffnung, dass beide im Gastland irgendwie überleben werden. Von einem Gott, der für sie eingreift, ist in der Geschichte nirgends die Rede. Seine verlässliche Treue wird nur im Verhalten Ruts sichtbar. Wer wie Noomi so einen Menschen an seiner Seite hat, der ist auch von Gott begleitet.
Noomi ist sich aber dessen nicht bewusst. Der Neuanfang in Betlehem ist schwierig, sie ist voll Resignation und Bitterkeit. Die Vergangenheit erscheint ihr verklärt, der Grund ihrer ersten Migration vergessen, wenn sie sich bei früheren Bekannten beklagt: "Nennt mich nicht mehr Noomi (die Liebliche), sondern Mara (die Bittere)... Reich bin ich ausgezogen, aber mit leeren Händen hat Gott mich heimkehren lassen." Sie fühlt sich auch von Gott gestraft. Rut wird da wohl noch ein Stück einsamer gewesen sein als zuvor, wenn sie Noomi, die zumindest nach Hause gekommen ist, so klagen hört. Aber sie lässt sich davon nicht beirren und ergreift die Initiative.
Es ist Zeit der Gerstenernte. Rut sagt: "Ich möchte aufs Feld gehen und Ähren lesen, wo es mir jemand erlaubt." (Rut 2,2). Migrantinnen heute gehen putzen, Rut sammelt die Reste der Wohlstandsgesellschaft. Denn die Ähren, die bei der Ernte zurückbleiben, dürfen die Armen aufklauben. Sie ist also abhängig von der Sozialgesetzgebung des Gastlandes und der Gunst derer, die sie auslegen.
Aber es ist eine prekäre Arbeit, und als fremde junge Frau ist sie Freiwild. Migrantinnen landen oft in der Prostitution, und auch Rut ist nur sicher, weil sich ein Mann uneigennützig für sie einsetzt, der Bauer Boas, dem der Grund gehört. Er rät ihr, in der Nähe anderer junger Frauen zu arbeiten und verbietet den Knechten, sie anzuschreien und zu belästigen.
Ein Hoffnungsschimmer
Das Entgegenkommen eines Einheimischen ist ein Hoffnungsschimmer. Boas zeigt Großzügigkeit und unterstützt Rut, ohne sie zu beschämen oder zu vereinnahmen, indem er anweist, besonders viele Ähren für sie fallen zu lassen. Er nimmt sie als schöne junge Frau wahr, nähert sich ihr aber nicht mit Macho-Gehabe, sondern respektiert ihre Würde und spricht an, was sie geleistet hat: "Mir wurde alles berichtet, was du ... für deine Schwiegermutter getan hast, wie du deinen Vater, deine Mutter, dein Land und deine Verwandtschaft verlassen hast und zu einem Volk gegangen bist, das dir zuvor unbekannt war." (Rut 2,11).
Überhören wir hier nicht die Anspielung der Erzählung auf Abraham, der auch aus der Heimat in ein fremdes Land zog! Ihm und seinem Gottvertrauen wird hier Rut gleichgestellt, eine arme und alleinstehende Ausländerin, die wie er dann zum Segen für ihr Umfeld wird.
Jedenfalls wird nun auch Noomi wieder aktiv. Sie hat bemerkt, dass der etwas ältere Boas Rut schätzt und sich vielleicht für sie interessiert. Noomi fädelt eine riskante Begegnung ein. Rut soll sich nach dem Erntefest im Schutz der Dunkelheit dem schlafenden Boas nähern. "Wasch dich, salbe dich und lege deine Tücher um, dann gehe zur Tenne hinab. Zeig dich aber dem Mann nicht, bis er fertig gegessen und getrunken hat. Wenn er sich niederlegt, so merke dir den Ort, wo er sich hinlegt. Geh dann hin, deck den Platz zu seinen Füßen auf und leg dich dorthin." (Rut 3,3-4).
Rut lässt sich darauf ein, obwohl sie ihren guten Ruf zu verlieren hat und riskiert, dass sie für ihn nur eine Abwechslung für eine Nacht wird.
Die Bibel schweigt darüber, was auf der Tenne dann passiert. Sie gibt nur das Gespräch der beiden wieder, in dem Rut um Schutz und Unterstützung für sie und Noomi wirbt und Boas indirekt zur Ehe auffordert. Er reagiert positiv und verspricht, sich um alles Nötige zu kümmern.
Der Rat der alten Frau, der Mut der Jungen, die Diskretion des noch illegalen Paares und eine rechtliche Bestimmung des Gastlandes (das Gesetz vom Löser) schaffen nun den beiden Frauen eine neue Existenz, und dem Mann Liebe und Familie. Das Kind, das dann zur Welt kommt, ist ein Vorfahr von David (und damit auch von Jesus) und wird zwei Völker und zwei Religionen verbinden.
Die Kraft der "chesed"
Rut hat eine neue Heimat gefunden und wird von ihrem Mann und ihrer Umgebung geachtet. Boas sagt zu ihr: "Alles, was du sagst, will ich für dich tun, denn alle Welt an Bethlehems Tor weiß, dass du eine starke Frau bist." (Rut 3,11). Und die Frauen Bethlehems gratulieren Noomi: "Deine Schwiegertochter, die dich liebt, ist dir mehr wert als sieben Söhne" (Rut 4,15b). Was das in einer patriarchalen Gesellschaft bedeutet, kann wohl nicht hoch genug bewertet werden.
Unabhängig vom Happy-End der Rut-Geschichte ist uns allen in den reichen Gesellschaften zu wünschen, dass wir Migration als Chance verstehen, dass sich Menschen und Völker verständigen und verbinden und Kulturen und Religionen einander bereichern. Ohne die Kraft der chesed, der Verlässlichkeit, Freundschaft und uneigennütziger solidarischer Hilfe kann das aber nicht gelingen. Wenn wir von der Zuwendung Gottes zu uns überzeugt sind und daraus leben, dann muss das daran sichtbar werden, wie wir in unserem Alltag mit Migrantinnen und Asylsuchenden umgehen: dass wir nämlich mit Courage Vorurteile ausräumen, uns fremde Menschen achten und mit Respekt und tätiger Unterstützung auf sie zugehen.
Dr.in Maria Prieler-Woldan, Linz
Zum Begriff "chesed" vgl. das entsprechende Stichwort im Glossar der Bibel in gerechter Sprache (Auflage 2006, S. 2338) - siehe "Kontexte"
Martin Stewen (2011)
Gabi Ceric (2001)
Lopez Weißmann (1998)