1. Lesung vom 12. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A:
Jer 20,10-13
Lesung aus dem Buch Jeremia:
Jeremia sprach:
Ich hörte das Flüstern der Vielen:
Grauen ringsum! Zeigt ihn an! Wir wollen ihn anzeigen.
Meine nächsten Bekannten warten alle darauf, daß ich stürze:
Vielleicht läßt er sich betören,
daß wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.
Doch der Herr steht mir bei wie ein gewaltiger Held.
Darum straucheln meine Verfolger und kommen nicht auf.
Sie werden schmählich zuschanden, da sie nichts erreichen,
in ewiger, unvergeßlicher Schmach.
Aber der Herr der Heere prüft den Gerechten,
er sieht Herz und Nieren.
Ich werde deine Rache an ihnen erleben;
denn dir habe ich meine Sache anvertraut.
Singt dem Herrn, rühmt den Herrn;
denn er rettet das Leben des Armen aus der Hand der Übeltäter.
Jeremia ist ins Gerede gekommen. Hinter seinem Rücken warten Menschen darauf, dass er zu Fall kommt. Was vorgefallen ist? Er hat die Wahrheit gesagt, sich mit einflussreichen und mächtigen Leuten angelegt, sich den Mund nicht verbieten lassen. Jetzt beginnt die Maschinerie aus Rache, Verdächtigung und Schönrederei.
Jeremia hat Gottes Wort ausgerichtet. „So spricht der Herr“, lautet die prophetische Botenformel. Auf den Herrn baut Jeremia auch im Konflikt. Der Herz und Nieren prüft, wird seinen Boten bewahren, ja, sein eigenes Wort nicht ins Leere gehen lassen.
Mit der Einladung, in das Lob Gottes einzustimmen, schließt die Lesung, die eine Geschichte aufbewahrt, die sich immer noch wiederholt. Aus dem Bekenntnis des Jeremia wird ein Gebet: Dir habe ich meine Sache anvertraut.
Die vorliegende Perikope stammt aus den "originären" Worten des Jeremia, nicht etwa aus Bearbeitungen nach ihm. Somit lässt sich der Text auf das Ende des 7. Jhdts v. Chr. datieren. In dieser Zeit erlebt Jeremia den Fall des Königs Joschija und die Machtergreifung König Jojakims, der ihm nicht wohlgesonnen war. Ein weiterer Einschnitt im Lebens Jeremias ist die Verschleppung des Königs zusammen mit einem Teil seines Volkes in die Babylonische Gefangenschaft im Jahr 597 sowie die Eroberung Jerusalems 586 v. Chr. Zu all diesen Momenten war es Jeremias Aufgabe sein Volk zu trösten und zu begleiten.
Das war nicht immer einfach: Der vorliegende Text gehört zu den sog. "Bekenntnissen" des Jeremia, in denen die tiefe Frustration des Propheten und sein ständiger Versuch, sich selbst und seinem Volk wieder Mut zuzusprechen, zum Ausdruck kommt. Diese Worte 20,10-13 stehen im Zusammenhang mit einer provokativen Handlung Jeremias gegen den Tempelpriester Paschhur (19,1-15), der ihn daraufhin foltern lässt. Jeremia aber wendet sich wieder gegen den Priester und gibt ihm den Schimpfnamen "Grauen ringsum" (20,3, vgl. dann 20,10). Diese Klageworte sind als eine Art Reflexion der Lage des Propheten anzusehen: Einerseits sieht er im Widerstand seine Aufgabe, andererseits droht er immer zu fallen.
Die erste Lesung ist dem der sog. 5. Konfession (Bekenntnis) des Jeremiabuches entnommen. In diesem liedartigen Text beklagt der Prophet in harten Worten und Bildern sein Schicksal.
Für die Liturgie wurde jedoch nur der mittlere Teil ausgewählt, der sehr vertrauensvoll endet. Die anschließenden Verse erst lassen den abgrundtiefen Kummer und die Verzweiflung des Gottesmannes voll erkennen (vgl. die ungekürzte Textfassung).
Der Prophet leidet vor allem unter der Nachrede und den Rachewünschen in seinem engsten Bekanntenkreis. Es zeigt das Ausmaß des Nichtverstandenwerdens des Gottesmannes: Er wird zerrissen zwischen Gott, dessen Botschaft er auszurichten hat, der ihn betört und gepackt hat (Vers 7) und zwischen den Menschen, die ihm nahe stehen.
Auf die Verse 7 bis 10 folgt ein Vertrauenslied (Verse 11 bis 13), in dem der betende Prophet seine Sache ganz Gott übergibt. Der Verfasser folgt dabei einem Darstellungsmuster, wie wir es auch in einigen Psalmen (z. B.: Ps 6, Ps 13 oder Ps 22) beobachten können.
Die liturgische Versauswahl endet mit dieser vertrauensvollen Stimmung. Das Lied des Propheten setzt zu einer weiteren Beschreibung seiner Verzweiflung an und endet mit einer Frage (Verse 14 bis 18).
Manfred Wussow (2005)
Martin Stewen (2002)
Hans Hütter (1996)