Soziale Schieflage...
Das Weinberg-Gleichnis gewährt uns einen Einblick in die Lebenswelt Israels zur Zeit Jesu. Ursprünglich war daran gedacht, dass das "Land der Verheißung" nicht in einem hohen Maße den Großgrundbesitzern gehören sollte, sondern allen, die Gott aus der Knechtschaft Ägyptens befreit hatte. Dass jeder frei und unabhängig leben könne, das war das große Ideal der Wanderer durch die Wüste.
Doch mit der Zeit übernahm Israel die Struktur, die es im Land Kanaan vorfand. Reiche, zum Teil Gauner, nahmen immer mehr Land in Besitz. Der Umfang der Ländereien wurde oft so groß, dass die Felder und Weinberge von ihren Besitzern selbst nicht mehr allein bewirtschaftet werden konnten. Sie übergaben Teile oder auch das gesamte Anwesen Pächtern, die einen Teil des jährlichen Ertrags an den Eigentümer abzuliefern hatten. Dieses System war in sich nicht übel oder verwerflich, wenn es nicht zahlreiche Großgrundbesitzer gegeben hätte, die bewusst Kleinbauern in den Ruin trieben. In Zeiten der Not lieh man den Kleinbauern Geld zu Wucherzinsen mit der Absicht, ihren Besitz einzukassieren, sollten die Bauern nicht pünktlich ihre Schulden abbezahlen.
... als Bild für religiöse Schieflage
Der Gutsbesitzer in unserem Gleichnis gehörte offensichtlich nicht zu dieser Sorte Landverpächter. Solide bringt er den Weinberg auf Vordermann, ehe er ihn Pächtern übergibt, da er zu verreisen gedenkt. Seinen Anteil an den Früchten lässt er sich nicht bringen, was eigentlich üblich war. Er schickt seine Knechte, nimmt damit den Pächtern einen Teil ihrer Arbeit ab. Sein Gut-Sein wird vonseiten der Pächter jedoch nicht belohnt. Im Gegenteil: Sie scheuen sich nicht zu morden, um selbst Besitzer der in Pacht befindlichen Grundstücke zu werden. Damit erweisen sie sich in ihrer Gesinnung noch gemeiner als die raffgierigen Großgrundbesitzer, auf die viele im Land zornig waren.
Klar und mit einer gewissen Schärfe trägt Jesus seinen Zuhörern das Gleichnis vor, damit sie - vor allem die Pharisäer und Schriftgelehrten unter ihnen - sich zur Überprüfung ihres eigenen Handelns herausgefordert fühlten. Die Übertragung der handelnden Personen im Gleichnis auf die Gegenwart war leicht und ohne weitere Erklärungen von jedem der Zuhörer zu vollziehen. Der Herr des Weinbergs ist Gott, die Pächter sind die Zuhörer, die Boten und Knechte des Weinbergsbesitzers die Propheten, die fast alle umgebracht wurden, der Sohn ist Jesus selbst. Schonungslos legt Jesus den Zuhörern dar, was aus dem von Jahwe angelegten Weinberg des Gottesvolkes geworden ist.
Warnung an das neue Volk Gottes
Nach Jesu Tod und Auferstehung und mit der Ausbreitung des Christentums hatte sich ein neues Volk Gottes geformt. Diesem neuen Volk Gottes gehören Juden wie Heiden an. Israel ist nicht mehr alleiniger Träger des Heils. Die Mitgliedschaft beim neuen Gottesvolk ist nicht gebunden an eine Nationalität, sondern ergibt sich aus dem Streben und dem Bemühen, Gott wohlgefällige Früchte zu bringen. Diese Menschen, gleich welcher Nationalität sie angehören, sind die im Evangelium erwähnten neuen Pächter. Die gläubig gewordenen Heiden lernten, sich zusammen mit den gläubigen Juden-Christen als das neue Volk Gottes zu verstehen. Sie nehmen Jesus ernst, der den Jüngern den Auftrag erteilte, alle Völker in seine Jüngerschaft als Volk Gottes zu führen.
Als Seelsorger möchte Matthäus mit dem Blick auf das alte Israel die Christen warnen, mit der Zeit in ein gleiches Verhalten abzurutschen wie Israel. Denn die Gefahr bleibt zu jeder Zeit, Gott seinen zurecht erwarteten Anteil nicht abzuliefern.
Der Evangelist richtet seine Warnung an jeden einzelnen. Jeder soll sein Gewissen erforschen, seine Gesinnung prüfen, sein Bestreben in der Liebe stärken und kraftvoll erhalten; und wo es nötig ist, einen neuen Anfang setzen. Dabei geht es dem Evangelisten an dieser Stelle seines Evangeliums nicht um die Qualität oder Menge der Früchte; es geht um die Qualität der Pächter.
Wer bin ich in dieser Geschichte?
Damit sind auch wir herausgefordert, uns zu fragen: Welche Gesinnung trage ich in mir? Stellen wir uns diese Frage mit der Sorge, die Matthäus bewegte. Er will uns nicht nerven, aber zur Wachsamkeit drängen. Zurückschauen sollen wir und eine ehrliche Bestandsaufnahme tätigen. Was ist aus mir geworden? Als eine Art Weinberg, so können wir im übertragenen Sinn sagen, hat Gott unser Inneres angelegt. Mit unseren Talenten und Fähigkeiten, mit der uns gegebenen Kraft, mit dem Boden, auf dem wir stehen, mit den Sonnenstrahlen, die uns erreichen, sind wir ein Weinberg, der Früchte bringen kann. Wir sind nicht festgelegt, welche Qualität sie aufzuweisen haben. Sodann können wir überlegen, welch schützenden Zaun wir um uns errichten wollen, um Gefährdungen von uns abzuhalten. Auch eine Kelter können wir uns einbauen. Die Kelter mit ihrer Presse war dazu da, aus den Trauben den Saft zu gewinnen. Unsere Besinnungsfrage könnte heißen: Wie kann ich aus den Früchten, die ich bringe, noch Edleres, den Wein, herausholen? Die Pächter des Weinbergs hätten dem Besitzer sicher Trauben abliefern können oder Wein. Beides hätte dieser wahrscheinlich als das ihm Zukommende angenommen. Meine Früchte der Kelter aussetzen heißt im übertragenen Sinn: Mein Gut-Sein nicht beenden, wo es unter Druck kommt, mir Kraft, Zeit und Nerven kostet, nicht anerkannt wird, keine Erwiderung findet, mir Nachteile einbringt, aus Neid Gegnerschaft hervorruft.
Gut-Sein wird nicht immer belohnt. Diese Erfahrung machte der Weinbergbesitzer, diese Erfahrung machen wir. Aber durch die Kelter gegangenes Gut-Sein wird zu einer qualitativ höheren Gabe und als Baustein gelegentlich zu einem Eckstein, selbst wenn es von manchen nicht anerkannt, geschätzt oder sogar verworfen wird.
Gott erwartet von mir gute Früchte
Was wird unser Motiv sein, was sollte uns bewegen, ein Weinberg zu sein, der gute Früchte hervorbringt? Es wird vor allem Dankbarkeit gegenüber Gott sein. Wer in Ruhe bedenkt, mit welcher Sorge uns Gott umgibt in seiner Liebe zu uns, der wird Gott sagen: Ich möchte dir, meinem Gott, danken durch die Früchte, die ich bringe. Denn wunderbar und groß ist dein Anteil daran, dass ich fähig bin, gute Früchte zu bringen. Selbst wenn ich krank, schwach, alt, behindert bin, kann ich Früchte tragen - Früchte des Wohlwollens, der Liebe, des Verzeihens, des Trostspendens oder der Ermutigung. Dir, meinem Gott, überbringe ich als Tribut und Gabe: Dank, Lobpreis, Verehrung, mein Vertrauen in dich und mein erneutes Ja zu dir und deinem Willen, meine Mühe.
Nehmen wir die Sorge des Matthäus nicht auf die leichte Schulter. Wir sind getauft, bekennen uns auch grundsätzlich zu Gott und Jesus Christus. Aber Gott wünscht sich auch, dass wir Früchte bringen. Beschnitten, die Taufform der Israeliten, und gottgläubig waren die Juden auch. Nur die Früchte, die sie hätten bringen können und die sich Gott von ihnen wünschte, fehlten bei vielen. Dass sich dies bei uns nicht wiederholen möge, darum ringt Matthäus.