Die letzte Seite
Matthäus sitzt an seinem letzten Blatt. Draußen dämmert es. Am Horizont lugt die Sonne in den Tag. Matthäus blättert noch einmal in seinem Stapel Papiere. Alles, was er von oder auch über Jesus gesammelt, geordnet und aufgeschrieben hat, ist – eigentlich – vollständig. Heute wird er fertig. Ein umfangreiches Werk findet seinen Abschluss.
In Galiläa trifft Jesus zum letzten Mal seine Jünger. Dort ist er ihnen auch zum ersten Mal begegnet. Damals, am See Genezareth. Ein paar Jahre ist das jetzt her. Inzwischen ist viel passiert. Dass jetzt aber einige zweifeln, lässt aufhorchen. Was eigentlich nur ein Nebensatz ist, eine Beobachtung am Rande, will nicht übersehen werden. Doch das Blatt ist voll. Zeile für Zeile wohl überlegt. Ein neues Blatt wird es nicht geben. Und die Zweifel werden nicht ausgeräumt.
Namen der Zweifler nennt Matthäus nicht. Einige, sagt er, einige! Unter die Zweifler gesellen wir uns auch. Mit unseren Fragen, Bedenken und Widerworten. Was kann ich denn glauben? Was hoffen? Verschweigen oder beschwichtigen lassen sich die Fragen nicht, wenn sie einmal ins Herz gezogen sind. Auf dem letzten Blatt wird nichts geschönt, vereinfacht oder übergangen. Das letzte Kapitel wird zu einem Kunstwerk. Matthäus legt den Stift aus der Hand.
Das letzte Wort
Wie viele Geschichten, Predigten und Wunder es sind, die er von Jesus erzählt hat! Schaut Matthäus zurück, hat er eine neue Welt nicht nur gesehen, sondern sie bis ins Detail verliebt beschrieben. Dass Menschen Liebe entdecken, oft auch ganz neu, ist immer ein Wunder. In Schuldgeschichten, Geschichten von Versagen, Geschichten von Hochmut und Hass. Es ist, als ob das Licht neu geschaffen wird und die Finsternis weicht.
Jesus begegnet, Jesus berührt Menschen und lässt sie einen Blick in den Himmel tun. Manchmal gewagt, immer überraschend. Er zeigt ihnen die Welt, wie sie von Gott gedacht ist. Wie sie von Gott geliebt ist. Die Welt bleibt bei ihm nicht so, wie sie ist. Sie muss auch nicht so bleiben. Auch nicht so, wie sie sich eingerichtet hat. Schon gar nicht, wie sie geordnet und festgelegt wird. Von Menschen, die „Herren der Welt“ spielen, aber auf ihren Altären nicht nur Menschen opfern, sie reißen die Erde mit ins Verderben, sich vergehen sich an der Zukunft. Heute schon bleiben viele Menschen auf der Strecke, sie verschwinden in Statistiken und Nachrichten. Manchmal ist das Klagen ganz leise, manchmal weint die Erde ganz laut.
Auf dem letzten Blatt soll darum auch die letzte Begegnung Jesu mit seinen Jüngern stehen. Er kommt zu ihnen. Er sucht sie auf. Wie damals, als er sie berief. Komm, folge mir nach! Doch jetzt sind die Jünger in ihre Heimat, in ihre Berufe, in ihre Vergangenheit zurückgekehrt. Man könnte denken, sie hätten ihre Geschichten mit Jesus abgeschlossen, schlimmer noch, sie hätten sich enttäuscht abgewandt, alle Hoffnungen aufgegeben. Doch Jesus kommt zu ihnen. Als der von den Toten Auferstandene. Er bringt ihnen sein Leben mit und vertraut ihnen an: „Geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe.“
Der Weg in die Welt
Die Jünger sind in die Welt gegangen. Ihre Spuren finden sich zwischen Indien und Spanien. Die ersten kleinen Gemeinden sind entstanden. Jesu Wort hat Menschen erreicht, das Evangelium quasi die ganze bekannte Welt erobert. Ganz so, wie Jesus gesagt hat. Ab jetzt wird an vielen Stellen der Welt Gottesdienst gefeiert, mal ganz einfach, mal festlich, mal im Busch, mal in einer Kathedrale. Ab jetzt werden Menschen getauft, als Erwachsene und dann auch als Kinder. Der christliche Glaube ist am Anfang ein Neuheitserlebnis, später gewöhnlich, irgendwann dann auch fremd. Doch das Evangelium verkündet das Geheimnis Gottes, seine Liebe. So veränderlich Zeiten und Überlieferungen sind. Neugierig, fasziniert und getröstet entdecken Menschen die Liebe Gottes.
Später wurde auch mit Gewalt missioniert, das Kreuz als Symbol der Macht missbraucht. Die Liebe Gottes musste so ziemlich für alles herhalten, was Menschen - in der Regel Weiße - in ihrem Großmachtstreben durchzusetzen suchten. Von der Ausbeutung Lateinamerikas, der Entrechtung der Ureinwohner bis zu den Kolonialreichen und den ersten Völkermorden. Das Evangelium wurde zu einem Vorwand, die Welt zu retten und sich zu unterwerfen. Auch heute befürchten Menschen, dass dieser Geist immer noch lebendig sein könnte. Die dunklen Seiten lassen sich nicht herausreißen. Langsam geht mir auf, warum Matthäus die Zweifel nicht weg retuschiert, sie auch nicht auflöst, ihnen keine neue Seite widmet. Zweifel schützt vor Größenwahn, Allmachtsphantasien und Selbstzufriedenheit. Der Zweifel ist eine Gabe Gottes. Wie weit Matthäus gesehen hat! Die letzte Seite ist tatsächlich ein Kunstwerk.
Wir wären heute nicht hier, wenn die Jünger nicht in die Welt gegangen wären. Sie haben Nachfolgerinnen und Nachfolger gefunden. Mitten unter uns. Menschen, die ihre Hoffnungen übernommen haben und sie weitergeben von Generation zu Generation, von Landstrich zu Landstrich, von Kirche zu Kirche. Heute sind wir dran. Wir sitzen auf den Schultern von Riesen. Und stehen auf den Schultern von Zweiflern.
Ob wir jetzt von der letzten Predigt Jesu reden oder eher beiläufig nur von einem Abschiedswort: Jesus sagt, dass ihm alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden. Eine wunderbare Wendung. Himmel und Erde verwachsen zu einem Raum, zu einem Raum der Liebe.
Das Geheimnis Gottes
Es war eine weise Entscheidung, uns dieses letzte Blatt aus dem Matthäusevangelium heute zu schenken – oder auch zuzumuten. Der Sonntag trägt den schönen, aber durchaus sperrigen Namen Dreifaltigkeitssonntag oder auch Trinitatis. Vorhin haben wir uns mit dem Kreuz bezeichnet und gesagt: Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Gebete schließen wir ab mit: "... durch Jesus Christus, deinen Sohn, der in der Einheit des Heiligen Geistes mit dir lebt und herrscht in Ewigkeit."
Oft sind das nur noch Formeln, Leerformeln. Aber sie umschreiben das Geheimnis Gottes: Gott ist in sich Liebe, er ist nach außen Liebe, er geht ganz in Liebe auf. Wir staunen über seine Väterlichkeit und Güte – dann freuen wir uns über die Schöpfung. Wir staunen über seine Barmherzigkeit und Geduld – dann sehen wir Jesus für uns leiden und sterben. Wir staunen über seine Gegenwart und Lebendigkeit – dann sehen wir seinen Geist, der weht, wo er will. Wir können ihn nicht bändigen, nicht einhegen, nicht für unsere Zwecke nutzen. Aber mit den vielen Erfahrungen, die wir machen, geht uns seine Liebe immer mehr auf. Er schenkt uns dafür sogar Augen, Ohren, Füße, Hände und Herzen.
Wir würden gerne alles erklären, in Worte und Begriffe fassen, aber Gott können wir nur loben, rühmen und uns über ihn freuen. Sein Geheimnis lüftet er nur halb: In jeder Liebeserfahrung sehen wir seine Rückseite. Sein Gesicht wird er uns noch zeigen: wenn er die Welt vollendet.
Paulus schreibt:
So bezeugt der Geist selber unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.
Sind wir aber Kinder, dann auch Erben;
wir sind Erben Gottes und sind Miterben Christi, wenn wir mit ihm leiden,
um mit ihm auch verherrlicht zu werden.
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.