Die kleine Herde
Es ist wahrhaftig kein großartiges und ermutigendes Bild, das uns im heutigen Evangelium von der frühen Kirche gezeichnet wird. Da ist ein Haufen verschüchterter, verängstigter, von Zweifeln an der Zukunft und an sich selbst gepackter Jünger, die auch um ihre physische Existenz bangen mussten: Die Furcht vor den Juden sitzt ihnen tief im Nacken. Und Gott scheint in weite unerreichbare Ferne gerückt zu sein.
Wehmütig rückblickend mögen sich die Jünger gefragt haben: Wo sind die Tage erfüllter Gemeinschaft mit Jesus hingekommen, wo die Stunden, in denen sie in der Vollmacht Jesu Kranke geheilt und böse Geister ausgetrieben haben? Wohin ist der Tag entschwunden, an dem begeisterte Scharen von Menschen Jesus einen triumphalen Einzug in Jerusalem bereitet hatten, dessen Zeugen die Jünger wohl gewesen waren.
Von all dem ist aber jetzt keine Rede mehr. Niedergeschlagenheit, unendlich scheinende Kraftlosigkeit, Resignation sind die beherrschende Stimmung, "Bon jour, tristesse" (Guten Tag, Traurigkeit), das scheint die Grundstimmung der Jünger zu sein.
Ein skeptischer und ein gläubiger Thomas
Aber da ist Jesus auf einmal da, mitten unter ihnen, obwohl die Türen verschlossen waren. Freude verdrängt die bisher vorherrschende Traurigkeit. Auf einmal scheint die Welt wieder perfekt in Ordnung zu sein. - Jesus verleiht den Jüngern die Vollmacht, Sünden zu vergeben.
Thomas aber ist nicht Zeuge dieses Erscheinens des Herrn, er befindet sich nicht im Kreis der übrigen Jünger. Er lässt sich aber auch von der überquellenden Euphorie der anderen nicht anstecken. Wenn er nicht buchstäblich hand-greifliche Beweise von dem bekommt, was die anderen Jünger erfahren haben, dann glaubt er nicht. Mit dem bloßen Hörensagen gibt er sich nicht zufrieden. Es ist eigentlich ein trotziges Aufbegehren, weil ihm etwas zu glauben zugemutet wird, was er nicht "be-greifen", nicht anfassen kann. Vielleicht hat er die anderen Jünger beneidet, dass sie ihm gegenüber einen Vorteil aufzuweisen haben: Denn dann fällt das Glauben ja leicht, wenn solche Beweise vorliegen!
Thomas stellt sozusagen einen Forderungskatalog auf, der erfüllt sein muss, bevor er selbst gläubig werden will: "Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht" (Jo 20, 25).
Er wird deshalb in volkstümlichen Bezeichnungen auch der "ungläubige Thomas" genannt. Und dies auch, obwohl er ja Jesus bittet, seinem Unglauben Abhilfe zu schaffen.
Aber schon der Kirchenlehrer Augustinus (354 - 430) hat den "Unglauben" des Thomas relativiert, wenn er schreibt, dass uns der Unglaube des Thomas mehr genützt habe als der Glaube der anderen Jünger. Denn Thomas ist derjenige, der zum Anlass für eine weitere Begegnung mit dem Auferstandenen wird. Jesus kommt dem zweifelnden Thomas zu Hilfe, indem er seinen unsicheren Glauben stützt, d.h. auf seine Wünsche eingeht. Jesu Worte enthalten aber zugleich einen Tadel, eine Zurechtweisung für Thomas: "Sei nicht ungläubig, sondern gläubig" und "Selig sind, die nicht sehen und doch glauben" (Jo 20, 27 f.). Der Apostel Paulus wird das später in die Worte kleiden: "Der Glaube kommt vom Hören" (Röm 10,17).
Der anfassbare und der unfassbare Gott
Thomas ist überwältigt vom Entgegen-Kommen Gottes, er ist hingerissen und kleidet dies in die Worte. "Mein Herr und mein Gott"; er ist ein überzeugter und überzeugender Glaubensbote geworden. Seine späteren Wege haben ihn bis ins heutige Indien geführt, Die schon im ersten Jahrhundert gegründete Kirche im heutigen Kerala (Südindien) führt ihr Entstehen auf Thomas zurück (Thomaschristen).
Thomas wird aber auch gelernt haben, dass sichtbares "handgreifliches" Erscheinen, Handeln Gottes und seine Begreifbarkeit nicht immer auf Verlangen bestellt und schon gar nicht ertrotzt werden können. "Dunkle Nächte der Seele" (vgl. Johannes vom Kreuz) sind ihm später sicher auch nicht erspart geblieben. Denn Beredsamkeit ist ja nicht die Sache Gottes; er bleibt immer auch ein Schweigender, was selbst Jesus in seiner Todesstunde erfahren musste "Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mt 27,46).
Thomas hat Jesus, den leibhaft Erschienenen angefasst, ihn körperlich berührt. Hat er ihn damit auch schon begriffen? - Das Verstehen, das Begreifen Gottes ist niemals abgeschlossener Besitz, sondern muss immer wieder neu errungen werden. Thomas hat mit seiner Bitte an Jesus "Mein Herr und mein Gott" mit dem Begreifen wohl erst begonnen; er wird es sein Leben lang fortsetzen müssen.