Jesus tritt in die Fußstapfen der Propheten. Er liest aus dem Buch des Propheten Jesaja und erleidet anfanghaft das Schicksal des Propheten Jeremia: Von Gott berufen, von den Menschen abgelehnt, sobald es um den Anspruch Gottes geht. Liebe aber hält durch.
Spannung pur
Was wir heute lesen, ist Spannung pur! Jeremia soll Gottes Bote sein. Es wird hart, gar bedrohlich für ihn werden, wenn er sich mit den mächtigen Menschen anlegt und Gottes Wahrheit verkündet, Gottes Recht, Gottes Gerechtigkeit. Dafür ist er von Gott schon vor seiner Geburt ausersehen worden. Schöne Aussicht? Die großen Herren der Welt - gelegentlich eifern auch Damen ihnen nach - haben immer schon ihre eigenen Wahrheiten zum Programm erhoben und gehen notfalls über Leichen. Natürlich gut begründet und für die Geschichtsbücher schon mal professionell aufbereitet. Selbst Historiker fallen gelegentlich darauf rein.
Jeremia bekommt die Zusicherung, nicht alleine gelassen zu sein und nicht auf verlorenem Posten zu stehen: "Ich selbst mache dich heute zur befestigten Stadt, zur eisernen Säule und zur ehernen Mauer gegen das ganze Land, gegen die Könige, Beamten und Priester von Juda und gegen die Bürger des Landes. Mögen sie dich bekämpfen, sie werden dich nicht bezwingen; denn ich bin mit dir, um dich zu retten - Spruch des Herrn".
Gottes Liebe ist der Maßstab
Wenn von Gottes Wahrheit, Gottes Recht, Gottes Gerechtigkeit zu erzählen ist, stoßen wir auf seine Liebe, die vor allem Anfang, vor jedem Ende, eben von Ewigkeit zu Ewigkeit, geschenkt und bewahrt wird. Paulus weiß von dem wohl größten Geheimnis Gottes in einem Hohelied der Liebe zu singen. Alle menschlichen Eigenschaften, Errungenschaften und Ideen werden an der Liebe gemessen.
Die Liebe hört niemals auf. Prophetisches Reden hat ein Ende, Zungenrede verstummt, Erkenntnis vergeht. Denn Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk unser prophetisches Reden; wenn aber das Vollendete kommt, vergeht alles Stückwerk… Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.
Liebe ist zerbrechlich
Jeremia ist fast an Gott zerbrochen. Klagelieder sind von ihm überliefert. Er hat seine Verlorenheit in dem Bild des verlassenen und verstoßenen Mädchens ausgedrückt, das ohne Liebe zurückbleibt. Du hast mir schöne Augen gemacht - und ich bin darauf hereingefallen, sagt Jeremia. Dass Liebe zerbrechlich ist, wissen wir. Sie ist, sie wird angefochten. Kann sie die Welt retten? Ist die Welt überhaupt noch zu retten?
Im Internet lese ich von der Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, die schon seit Längerem Drohbriefe erhält, Drohbriefe mit rassistischen Schmähungen. Dass sich die Anwältin mutig und beherzt für Menschen einsetzt, wird ihr zum Vorwurf gemacht, ihr Verständnis von Wahrheit und Recht attackiert: Sie vertrete die falschen Menschen. Und gehöre selbst nicht "zu uns". Spuren führen bis in die Polizei. Dort wurden Daten missbraucht.
Ärger auf der ganzen Linie
Jetzt gehen wir noch einmal nach Nazareth. Das war doch eigentlich eine schöne, rundum gelungene Predigt! Mit so vielen Perspektiven, mit so viel Mut. Jesus liest in der heimatlichen Synagoge eine Stelle aus der Bibel vor, eine Stelle aus dem Propheten Jesaja:
Der Geist des Herrn ruht auf mir;
denn der Herr hat mich gesalbt.
Er hat mich gesandt,
damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe;
damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde
und den Blinden das Augenlicht;
damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze
und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe
Und dann das: Ärger auf der ganzen Linie. Unverständnis pur. Die Menschen, erst neugierig und gespannt, wohlwollend und staunend, sind wütend und aufgebracht. Nichts hält sie mehr auf ihren Sitzen. Sie treiben Jesus sogar zur Stadt hinaus. Am liebsten hätten sie ihn gleich den Abhang hinuntergestürzt. In Nazareth ist auf einmal der Mopp los. Lynchjustiz? Intoleranz? Volkes Stimme? - Was hat Jesus nur gemacht?
An 5 Fingern abgezählt
Da, wo Jesus groß geworden ist, in Nazareth - einem unbedeutenden und eher übel beleumdeten Nest - feiern die Menschen ihren Gottesdienst am Sabbat. Jesus ist mitten unter ihnen. An diesem Tag sogar an exponierter Stelle. Alle Augen sind auf ihn gerichtet. Jesus muss in Nazareth anfangen! Wenn irgendwo, dann hier! Jesus sagt: Dieses Schriftwort aus dem Alten Testament ist heute erfüllt vor euren Ohren. Heute! Vor euren Ohren!
Gott hat mich für euch zum Messias bestellt, sein Geist, seine Augen ruhen auf mir.
- Den armen, vergessenen und ausgemusterten Menschen richte ich das Evangelium aus, die frohe Botschaft, dass sie geliebt sind.
- Denen, die in ihren alten Geschichten gefangen sind, verkündige ich einen neuen Anfang.
- Denen, die in ihren Vorurteilen und Ängsten blind geworden sind, schenke ich eine neue Sicht auf die Welt und die Menschen.
- Die, die zum Schweigen gebracht und klein gehalten werden, werden frei, für die Wahrheit und das Recht einzustehen.
- Und überhaupt: Gott spricht seine Gnade aus. Gott ruft eine neue Zeit aus. Gott selbst bricht auf. Er kommt zu uns!
Genau genommen sind es fünf Sätze, fünf Verheißungen, fünf Zusagen. Sie lassen sich an den fünf Fingern einer Hand ablesen, in einer Hand halten, in einer Hand öffnen. Was wir finden, ist von A bis Z die Liebe Gottes.
Jesus ist, griechisch gesprochen, der Christus, hebräisch der Messias. Wie ein König ist er gesalbt. Der Hoffnungsträger für die neue Welt Gottes. Das Gesicht Gottes! Lange erwartet, lange ersehnt. Nazareth ist nur ein Anfang. Eine Initialzündung. Ein Hingucker.
Wut und Empörung
Doch wenn wir hinschauen, was sehen wir? Die Leute in Nazareth sind wütend und erbost. Dass sie Jesus von klein auf kennen, ist jetzt eher gefährlich als vertrauenerweckend, eher abschreckend als verständnisvoll. Es muss etwas geschehen sein, was die Stimmung kippen und aus ehrbaren Nachbarn Furien werden lässt. Ich sehe den Abhang vor mir. Ist es verschmähte Liebe?! Enttäuschung? Aber dann gleich bei so vielen?
Was heute noch mal gut geht, wird gar nicht so viel später in einer Kreuzigung enden. In hasserfülltem Gejohle: Kreuzige ihn, kreuzige ihn! Ich höre den Schrei, Gesichter sehe ich nicht. Beginnt schon in Nazareth, was in Jerusalem bittere Wahrheit wird? Wo kommt die Feindschaft nur her? Die Aggressivität? Die Unruhe?
Jesus wird zum großen Fremden
Mein Wunsch, mehr zu wissen, wird leider nicht erfüllt. Schon die Geschichte, die in Nazareth spielt, bleibt unheimlich offen. Offen, weil niemand weiß, was in den Köpfen und Herzen vor sich geht. Und vielleicht auch nicht wissen muss. Lukas aber lässt uns an einer Ahnung teilhaben: Die Liebe kennt keine Grenzen - Menschen aber ziehen Grenzen. Die Liebe kennt keine Fremden - Menschen aber machen andere zu Fremden. Die Liebe kennt keine Angst - Menschen aber fürchten einander. Gründe gibt es zu Hauf, gibt es auch einen Grund, mit den Gründen noch einmal aufzuräumen, sie abzuwägen und neu auszurichten? Jesus erzählt in Nazareth von Menschen, die aus der Vergangenheit auftauchen. Er erzählt von zwei Heiden, von zwei Fremden, die Gottes Liebe geschenkt bekamen und annahmen: die Witwe in Sarepta - der syrische Hauptmann Naaman. Wurden ihre Geschichten nicht auch immer wieder vorgelesen? In Nazareth? Überall? Eigentlich, eigentlich war alles klar.
Aber dann scheiden sich an Jesus die Geister. Er wird zu dem großen Fremden, den man verjagen, sogar den Abgrund hinunterstoßen muss. Hat man eine so große Angst vor ihm? Vor seiner Liebe? Vor seiner Art? Gott selbst wird seinem Volk fremd - oder: entfremdet. Lukas erzählt in einem langen, wunderschön geschriebenen Evangelium, dass Gottes Liebe sogar den Tod überwindet. Für alle Menschen. Der Liebe ist keine Totenklage zu widmen - sie lebt unbeirrt, trotzig und unverzagt weiter. In vielen Menschen.
Jetzt leuchtet der Weg, den Jeremia gegangen ist.
Jetzt ist das Lied der Liebe größer als alle Engelgesänge.
Herr, mein Gott, du bist ja meine Zuversicht,
meine Hoffnung von Jugend auf.
Vom Mutterleib an stütze ich mich auf dich,
vom Mutterschoß an bist du mein Beschützer,
dir gilt mein Lobpreis allezeit. (Ps. 71,15)
Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei;
doch am größten unter ihnen ist die Liebe.
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus, unserem Herrn.
Manfred Wussow (2007)
Maria Wachtler (2004)
Bernhard Zahrl (2001)