In aller Öffentlichkeit
Vielen sind die Nachrichten zu Dominik Strauß - Kahn noch in guter Erinnerung. Da wird jemand öffentlich abgeführt und der Vergewaltigung angeklagt. Alle Welt schaut zu und erfährt alles Mögliche über diesen Mann. Er ist ja berühmt. Nur wenige Dinge erfährt man über die betroffene Frau - und was dann doch in der Zeitung ist, macht sie fragwürdig.
Vor zwei Wochen kam das Thema wieder in die Zeitung. Die Anklage wird fallengelassen. Es gibt keinen Prozess und keine Strafe. Aber sein Ruf ist dahin. Und die Frau steht plötzlich da als die große Lügnerin. Jetzt ist sie die Böse. Und alle Welt kann auf sie mit dem Finger zeigen.
Unter vier Augen
Wie anders ist da doch der Rat Jesu. Wenn du einen aus der Gemeinschaft warnen musst, dann mach es allein. Er soll nicht vor großer Runde zugeben müssen, was ist. Er soll nicht vor großer Runde erkennen müssen, wie bekannt seine Schuld ist.
Hilft das nicht, dann wird erweitert. Zwei weitere sollen dazukommen. Sie erhöhen den Druck und sind ggf. auch Zeugen, dass man alles versucht hat. Sie zeigen an: "Du bist uns schon wichtig. Wir kommen zu dritt, um dir ins Gewissen zu reden. Wir wollen dich nicht verlieren!"
Und schließlich die letzte Möglichkeit: "Sprich das Thema vor der Gemeinde an!" Die Gemeinde ist nicht die Öffentlichkeit. Die Gemeinde ist die Versammlung derer, die aus ihrem Glauben heraus versuchen, ein gemeinsames Leben zu führen. Da gehört es hin - in respektvoller Liebe und in eindeutiger Klarheit.
Im Kreis der Gemeinde
Denn das Verhalten des Sünders fällt auf den Kreis zurück, zu dem er gehört. Dass dies so ist, haben wir als Kirche im Zusammenhang mit all den Missbrauchsfällen erlebt. Wegen der Täter verlor deren ganze Institution an Glaubwürdigkeit. "Wer einen solchen Menschen in seinen Reihen hat, kann auch sonst keinen Respekt erwarten!"
Was aber heißt das für das Miteinander in der Gemeinde? Wenn ich meinen Bruder vor der Sünde warnen soll, muss ich ja hinschauen. Dann dürfen mir sein Leben und sein Alltag nicht einerlei oder gleichgültig sein. Dann kann nicht nur die viel zitierte Toleranz gelten. Dann kann er nicht nur mit sich ausmachen, was er tut.
Wichtig dabei ist: Die Wahrnehmung des anderen soll in Liebe geschehen. Kein Blick in der Hoffnung, etwas zum Tratsch zu haben, sondern Blick in der Hoffnung, keinen zu verlieren. Jedes Mitglied in der Gemeinde soll wissen: "Ohne dich sind wir ärmer, und das wollen wir nicht sein. Wir wollen dir helfen, dass du weiter zu uns gehörst."
Es wird ja gleich deutlich gemacht, warum der Einzelne in der Gemeinde gehalten werden soll: Die Gemeinde als Ganze ist es, die sich versammelt und zum Vater betet. Es haben auch die zwei oder drei Beter die Kraft, aber eine große Gruppe hat sie umso mehr. Es geht ja nicht nur um die Frage, wie das in himmlischer Mathematik aussieht. Es ist auch die Inspiration für die Mitglieder selbst. Eine starke und sich einbringende Gemeinde ermutigt den Einzelnen. Eine Messe mit 20 verstreuten Menschen in einer Kirche für 400 steckt nicht so an wie eine Teilnahme an den großen Gottesdiensten des Katholikentags oder jüngst in Madrid beim Weltjugendtag.
Ein Gebot der Liebe
Im Anliegen des Segens und der Zukunft für den Sünder ist die Lesung aus dem Römerbrief eine gute Ergänzung: "Die Liebe schuldet ihr einander immer" (Röm 13,8). Das ist heute umso kostbarer, als dass es von der Liturgie her keinen Zusammenhang zwischen der Lesung aus dem Neuen Testament und dem Evangelium geben muss. Hier aber ist er.
Wenn ich einem anderen Liebe schulde, dann hat sie viele Facetten. Zugleich hat sie zwei Wurzeln:
- Die Ahnung, dass der andere Geschöpf Gottes ist.
- Der Glaube, dass Gott auch diesem Menschen Erlösung anbietet.
Darauf lässt sich aufbauen.