Lesung aus dem Buch Ezechiel.
So spricht der Herr:
Du Menschensohn,
ich habe dich dem Haus Israel als Wächter gegeben;
wenn du ein Wort aus meinem Mund hörst,
musst du sie vor mir warnen.
Wenn ich zum Schuldigen sage:
Schuldiger, du musst sterben!
und wenn du nicht redest,
um den Schuldigen vor seinem Weg zu warnen,
dann wird dieser Schuldige seiner Sünde wegen sterben;
sein Blut aber fordere ich aus deiner Hand zurück.
Du aber, wenn du einen Schuldigen vor seinem Weg gewarnt hast,
damit er umkehrt,
und er sich nicht abkehrt von seinem Weg,
dann wird er seiner Sünde wegen sterben;
du aber hast dein Leben gerettet.
Ezechiel wird hier von Gott zum Wächter für Israel ernannt. Der Prophet soll wachsam sein und vor den Konsequenzen warnen, wenn einer Wege geht, die ihn ins Verderben führen (Vers 7). Schwierig liest sich die Formulierung "Du musst sterben!" (Vers 8) als Gottesurteil, für dessen Vollstreckung eine Frist eingeräumt wird, in der der Prophet wirken kann. Anders klingt diese Stelle jedoch, wenn man Ez 33,11 ernst nimmt: "So wahr ich lebe - Spruch Gottes, des Herrn -, ich habe keinen Gefallen am Tod des Schuldigen, sondern daran, dass er auf seinem Weg umkehrt und am Leben bleibt." Hier zeigt sich Gott als der, der erfülltes Leben für jeden Menschen will. Um dies zu verwirklichen, braucht er wachsame Menschen. "Sterben" bezeichnet dann nicht gottgewollte Strafe für Schuld, sondern die unvermeidliche Folge davon, dass jemand gegen gottgewollte Lebendigkeit lebt und sich damit selbst "um sein (erfülltes) Leben bringt".
Jeder, der solches bei einem anderen wachsam wahrnimmt, steht in der Verantwortung, liebevoll und deutlich zu warnen. Versäumt er dies, so wird er mitschuldig am Unglück des anderen (Vers 8). Teilt er dem anderen mit, was er sieht und ahnt, so hat er seine Aufgabe erfüllt. Ob der andere umkehrt oder nicht, steht dann allein in dessen eigener Verantwortung (Vers 9). Diese Gegenüberstellung von Alternativen verdeutlicht die Wichtigkeit und auch die Grenzen von Verantwortlichkeit einem Mitmenschen gegenüber. Zwischen den beiden Extremen "Das geht mich nichts an, deshalb mische ich mich nicht ein." und "Wenn ich sehe, dass einer in sein Unglück rennt, muss ich ihn retten!" wird ein gesunder Mittelweg aufgezeigt. So fordert diese Lesung heute dazu heraus, einen realistischen Umgang mit Verantwortung anderen gegenüber einzuüben.
Claudia Simonis-Hippel, in: Bernhard Krautter/Franz-Josef Ortkemper (Hg.), Gottes Volk Lesejahr A 7/2011. Verlag Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2011, S. 36-48
Ein Volk in der Verbannung fragt sich immer nach den Gründen seiner Geschichte. So ist es auch mit dem Volk Israel in der Babylonischen Gefangenschaft. Eine Erklärung war: Wir sind jetzt hier, weil wir gesündigt haben. Das hat uns in Gottes Augen strafwürdig gemacht.
In diese Situation hinein kommt Ezechiel. Er wird berufen zum Wächter. Er soll mahnen, dass nicht wieder ein Leben in Sünde beginnt. Er soll aufpassen, dass ein Volk, das sich bekehrt hat, wieder seine alte Würde und Größe bekommen kann. Als Wächter hat er freilich keine Freiheit. Er muss Rechenschaft ablegen über jede erfolgreiche, mehr noch über jede vergebliche Mahnung an die Menschen.
Ezechiel möchte als Prophet den Israeliten die Augen öffnen, damit sie vor dem Unheil bewahrt bleiben. Die Situation des Volkes Israel war davon geprägt, dass das Gottesvolk nicht mehr in Sicherheit mit Gott in seiner Mitte wohnt, sondern dass die Menschen ins Exil deportiert worden waren. Der Heimat entwurzelt, herausgerissen aus festen Familien- und Volkstraditionen, bilden die Exilianten eine heterogene Gruppe. Einer diffusen Gemeinde steht nun Ezechiel gegenüber. Die Gefahr, vor der Ezechiel warnen muß, kommt nicht von außen durch einen feindlichen Angriff. Er muß vor Jahwe selbst warnen, der in seinem richtenden Handeln eine Bedrohung für das "ungläubig gewordene" Volk werden kann. Ezechiel versucht, den einzelnen in seiner Selbständigkeit und Verantwortlichkeit im Glauben für sich selber und seinen Mitmenschen anzusprechen.
Claudia Simonis-Hippel (2011)
Norbert Riebartsch (2011)
Wolfgang Jungmayr (2002)