In einer Stadt im Morgenland lebten drei hochangesehene Männer. Sie waren beim König und beim Volk gleichermaßen beliebt und wurden die Zierde des Landes genannt. Jeder von ihnen hatte eine besondere Gabe.
Der eine war berühmt wegen seiner weisen Worte, weshalb er auch »Der Weise« genannt wurde. Wenn er zu sprechen anfing, verstummten alle und hörten ihm gebannt zu. Was er sagte, hatte Gewicht, denn es war voller Wahrheit und Leben. Es war, wie wenn er allen Dingen und Erscheinungen Sinn und Bedeutung abgelauscht und in seine Worte gefaßt hätte. Auch forschte er in den alten und neuen Schriften und suchte nach Zusammenhängen und streute sein Wissen wie Edelsteine unter die Menschen. Er hatte alles wohl durchdacht und wußte auf alle Fragen eine Antwort. Abgesandte ferner Länder kamen zu ihm, unterhielten sich mit ihm und baten ihn um Rat. Und sein Rat wurde mit Gold aufgewogen.
Der Zweite war berühmt wegen seiner Fähigkeit, in die Zukunft zu schauen. Er wurde »Der Seher« genannt. Zu ihm kam, wer eine Reise unternehmen, ein Geschäft abschließen oder eine Familie gründen wollte. Er war einst Priester gewesen und beherrschte alle Techniken der Opferschau. Er kannte die Stellung und den Einfluß der Sterne, las in den Händen der Menschen und konnte ihr Schicksal voraussagen. Viele brachten ihm Geschenke, aber er ließ sich bei seiner Schau von ihnen nicht beirren und offenbarte nur, was ihm gezeigt worden war. Wenn er stumm vor sich niederblickte, wußte jeder, der ihn fragen wollte, daß ihm das Schicksal gefährlich war. Wenn er aufblickte, wußte man, daß einem das Schicksal wohlgesinnt war.
Der Dritte war von ganz anderer Art. Ihn nannte man »Der Große«. Er kannte alle Sitten und Bräuche und wußte, wie man sich jederzeit zu verhalten hatte. An ihn wandte man sich, wenn man Zugang zum König oder zu einer wichtigen Stelle begehrte. Er war mit allen Anreden und Titeln vertraut, kannte die Schwächen der Eitlen und Mächtigen und verstand sie für seine Dienste und Ratschläge auszunützen. Er kannte die geschriebenen Gesetze und die ungeschriebenen Spielregeln der Gesellschaft. Er äußerte sich gepflegt, war stets reich gekleidet und bewegte sich vornehm und gewichtig. Man respektierte ihn mehr, als daß man ihn liebte, denn man war auf ihn angewiesen. Viele verdankten ihm ihre Stellung und vergaßen ihn bei ihrem Erfolg nicht.
So lebten und wirkten die drei Männer in derselben Stadt und wurden von Hoch und Niedrig geehrt und bewundert. Alle schätzten sich glücklich, von ihren Fähigkeiten zehren zu können. Auch galt es als ein Zeichen besonderen Glücks, daß keiner der drei Begabten auf den andern neidisch war, vielmehr jeder sich an der Gabe des andern freute. Wenn sonst auch jeder seinen eigenen Weg ging, wurden sie doch in schwierigen Zeiten gemeinsam zum König gerufen und berieten miteinander zum besten des Landes und des Volkes.
So war und blieb es, bis der große Stern am Himmel aufleuchtete.
Der Seher sah ihn zuerst. Er war überrascht, denn er hatte ihn nicht vorausgesehen. Plötzlich war er aus der unermeßlichen Tiefe des Himmels aufgetaucht und stand da. Dem Seher wurde aber sofort klar, daß der Stern etwas Besonderes bedeutete. Uralte Weissagungen früherer Seher kamen ihm jetzt in den Sinn. Sie hatten verkündet, daß das Aufleuchten eines solchen Sternes die Geburt eines Königs anzeigen werde, welcher der Welt Heil und Frieden bringen würde. Der Seher teilte den zwei andern seine Entdeckung sofort mit, und sie beschlossen, hinzugehen und dem neugeborenen König zu huldigen. Sie ließen sich vom König Urlaub geben und machten sich nach den notwendigen Zurüstungen auf die Reise. Sie sahen verwundert, daß ihnen der Stern voranging und den Weg zeigte. So gelangten sie nach vielen Wochen nach Jerusalem. Nach einer befremdlichen Begegnung mit dem dortigen König und seinen Gelehrten zogen sie weiter dem Stern nach, bis er über dem Orte stillstand, wo das Kindlein war. Da wurden sie sehr hoch erfreut und traten auf das Haus zu. Zuvorderst ging der Große, da er am besten wußte, wie man sich einem neugeborenen König zu nähern hatte. Ihm folgten der Seher und der Weise.
Groß und breit wollte der Große die Hütte betreten. Aber die Türe war so niedrig und schmal, daß er sich bücken und seinen prächtigen Mantel eng um sich schließen mußte, um nirgends hängen zu bleiben. Als er endlich drinnen war, schaute er verblüfft umher. In einer Krippe lag ein Kind, und hinter ihr saßen auf Tüchern am Boden, armselig angezogen, eine Frau und ein Mann. Er blickte sich nach dem Seher um, der eben hereinkam, wie um ihn zu fragen, ob sie auch am rechten Ort wären. Der aber nickte nur und half dem Weisen, hereinzukommen.
Nun standen die drei angesehenen Männer vor dem Kind und seinen Eltern, und der Große schickte sich an, sie nach königlichem Zeremoniell zu begrüßen. Er wollte sich vor der Krippe hin-stellen, die Arme weit ausbreiten und die erhabenen Grußworte sprechen. Aber keines der Worte, die er sich zurechtgelegt hatte, wollte passen. Und um die Arme auszubreiten, war es nach allen Seiten zu eng, er konnte nur seine Hände vor der Brust zusammen-legen. Auch konnte er sich nicht nach dem königlichen Brauch des Morgenlandes der Länge nach vor der Krippe hinlegen. Es gelang ihm nur, ein Knie zu beugen. Dabei sah er auf einmal, daß die Decke, die auf dem Kind lag, schmal und dünn war. Plötzlich fühlte er das Gewicht seines Mantels. So schwer hatte er noch nie auf ihm gelastet. Er stand auf, zog ihn aus und legte ihn sorgfältig über die Decke. Ihm war, als ob eine große Last von ihm abgefallen wäre und er sich endlich frei bewegen könnte. Er trat zurück, und der Seher trat vor.
Er blickte nachdenklich auf das Kind. Von dessen Stirne leuchtete es, wie wenn sich der große Stern auf ihr niedergelassen hätte, so daß der Seher geblendet die Augen schloß. Als er sie wieder öffnete, sammelte er alle seine Kräfte in seinen Blick, um für das Kind in die Zukunft zu schauen. Er sah viel Licht, immer stärker werdendes Licht, alle Sterne schienen um das Kind zu kreisen. Aber auf einmal schob sich ein schwerer Schatten dazwischen und verschlang alles Licht. Ihm wurde schwarz vor Augen, aber dann wurde es wieder hell, noch heller als zuvor, mit einem Glanz, den er noch nie gesehen hatte, so daß es ihn schmerzte und er abermals die Augen schließen mußte. Hinter den geschlossenen Lidern versuchte er Bilder zu fassen, aber es gelang ihm nicht. Als er die Augen wieder öffnete, verschwamm alles vor ihm. Das Gesicht des Kindes schimmerte wie durch einen Tränenschleier tausendfach und zugleich tausendfach gebrochen. Unendlich viele menschliche Gesichter bildeten eine Wand, die dem Seher keinen Durch-blick in das zukünftige Schicksal dahinter gewährte. Er hob und senkte den Kopf und verstand nichts mehr. Hilflos wich er zurück.
Der Weise trat vor. Er wunderte sich, daß bisher noch kein Wort gefallen war, und fühlte sich verpflichtet, das beängstigende Schweigen zu brechen. Als er auf die Eltern und das Kind blickte, merkte er, daß er für diese Menschen die einfachsten Worte finden müßte. Aber gerade von ihnen fiel ihm nicht eines ein. Da griff er in den Mantel und nahm eine Rolle heraus, in der er alle Weisheit der Welt und seine eigene niedergeschrieben hatte. Er streckte sie dem Vater entgegen und sprach: »In dieser Schriftrolle steht alles, was ein Mensch erkennen kann. Lest dem Knaben daraus vor, wenn er alt genug ist, um zu verstehen. Die Sätze werden ihm helfen, das Leben und die Menschen besser zu verstehen und seinen Weg zu finden. Und er wird weiser sein als viele Menschen seiner Zeit.« Der Vater nahm die Rolle und sprach: »Ich danke dir für deine Gabe. Wir können zwar nicht lesen, aber er wird es vielleicht lernen und deine Worte bewahren.« Und sorgsam legte er die Rolle neben sich auf den Boden.
Der Weise wurde verwirrt, als er die Worte hörte und seine kost-bare Gabe dort liegen sah. Aber er schwieg und nickte nur leise mit dem Kopf. Dann verneigte er sich vor dem Kind und den Eltern, gab den Gefährten ein Zeichen und verließ die Hütte. Der Große sah, daß der Seher noch immer wie verzückt dastand. Er ergriff ihn an der Hand und führte ihn hinaus.
Draußen standen sie lange schweigend beieinander. Der Große begann zuerst zu reden und sagte: »Ich weiß noch immer nicht, ob es der rechte Ort war. Aber daß es das rechte Kind ist, weiß ich bestimmt. Es hat mich ganz glücklich gemacht.« Dabei lachte er und tat einige Schritte, wie wenn er tanzen wollte. Der Seher flüsterte vor sich hin: »Licht, Schatten, Licht, Menschen, Menschen - ich sehe nicht dahinter, ich kann's nicht fassen!« Der Weise stand daneben und schwieg. Endlich öffnete er den Mund und wollte etwas sagen. Aber statt der Worte kamen nur einige heisere Laute heraus. Der Große erschrak, berührte seine Hand und verstand plötzlich, was mit ihm geschehen war. Dann sagte er zum Seher: »Wir müssen so schnell als möglich nach Hause. Führe uns auf dem Weg zurück. Es ist dunkel, und ich kann den Stern nicht sehen.« Der Seher antwortete: »Du kannst den Stern nicht sehen? Er ist beim Kind. Aber meine Augen sind auch dort geblieben. Ich kann nicht mehr sehen.« Betroffen schauten seine Gefährten einander an. Sie nahmen ihn in die Mitte und gingen miteinander in die Nacht hinein.
Sie zogen auf einem andern Weg in ihr Land zurück. Sie mieden die Städte und großen Straßen und wanderten meistens in der Nacht. Sie brauchten viel Zeit, um zu bedenken, was sie erlebt hatten.
Kaum waren sie in der Stadt angekommen, wurden sie zum König geführt, um über den neugeborenen König Bericht zu erstatten. Jeder, der sie in der Stadt und am Hof sah, verwunderte sich über ihre Aufmachung, am meisten jedoch über das schlichte Gebaren des Großen, der den Seher an der Hand hielt, wie wenn er ein Kind wäre, und dabei selber wie ein Kind wirkte. Nachdem sie sich vor dem König kurz verneigt hatten, bat der König den Weisen um Auskunft über das Kind. Der aber zuckte hilflos mit den Schultern und schwieg. Da wandte sich der König an den Seher und fragte ihn, was er vorausgesehen habe. Der Seher antwortete: »Licht, viel Licht mitten in der größten Finsternis und Menschen, viele Menschen in seinem Gesicht. Mehr konnte ich nicht sehen.«
Der König schaute befremdet auf den Großen, der lächelnd dastand und herumblickte, als ob ihm nichts ernst und ehrwürdig wäre, und fragte ihn, was mit ihnen geschehen sei. Da erzählte er, was sie beim Kind in der Krippe erlebt und dabei gefunden und verloren hatten. Der König entgegnete unwillig: »Der Stern hat euch in die Irre geführt. Eure Reise zu diesem Krippenkönig hat allen nur Schaden gebracht. Ihr seid kindisch, blind und stumm geworden. Geht, ich kann euch in meinem Dienst nicht mehr brauchen!« Da verließen sie den Hof und gingen, jeder an seinen Ort.
Bald wußte jeder in der Stadt, was geschehen war. Die einen empfanden Mitleid mit den Gestürzten, andere spotteten über sie. Es ging nicht lange, und sie wurden nach den Worten des Königs »Der Stumme«, »Der Blinde« und »Der Kindische« genannt. Alle klugen und vornehmen Leute mieden sie und kannten sie nicht mehr, wenn sie ihnen zufällig begegneten.
Aber nach einiger Zeit merkten die Menschen, die in ihrer Nähe lebten, daß um sie etwas Neues war. Der Stumme hatte für jeden Zeit, der zu ihm kam. Er verbreitete Ruhe um sich, und wer bei ihm war, spürte sie und wurde bald selber von ihr umfangen. Ihm konnte man alles anvertrauen und wußte es bei ihm gut aufgehoben. Sein stilles Zuhören und leises Verstehen vermochten, daß jeder vor ihm im eigenen Herzen zu suchen begann und Antwort fand. Und wer sie nicht fand, ging weg und wußte doch, daß jemand ihn still und wissend begleitete.
Auch der Blinde konnte gut zuhören. Er ließ die Menschen ihr bisheriges Schicksal erzählen, lauschte auf den Klang ihrer Stimme und vernahm, weil er mit dem Herzen zuhörte, Verborgenes und Tiefes. Dabei tastete er nach oben zu ihrem Gesicht und nach unten zu ihren Händen, um sie zu streicheln und ihnen wohlzutun. Keinem sagte er etwas voraus. Er sagte nur: »Es gibt ein Kind auf der Welt, das auch für deine dunklen Tage und Wege genug Licht hat. Sorge dich nicht!« Und voller Zuversicht gingen die Menschen von ihm weg.
Der Kindische ging viel unter die Leute. Er lachte und spaßte und sang mit ihnen, um sie zu erheitern. Am liebsten spielte er mit den Kindern und half ihnen, ihre Ängste und Unsicherheiten zu überwinden. Sooft es ging, zog er auch die Erwachsenen ins Spiel ein und ermutigte sie, alles Gespreizte, Wichtigtuerische und die Angst voreinander abzulegen und wieder kindlich und einfach zu werden. Wenn man ihn nach dem Sinn seines Benehmens fragte, sagte er nur: »Wir müssen doch Kinder werden, um groß zu sein - hat mir der König in der Krippe gesagt.«
So geschah es, daß in einer Stadt im Morgenland drei hochangesehene Männer ihre überkommene Weisheit verloren und eine fanden, die sie bescheiden und glücklich machte, und daß sie andern halfen, sie auch zu finden.
Aus: Werner Reiser, Der verhaftete Friedensengel. Kritische Legenden. GTB, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1997.