Emmaus
Im Evangelium hören wir die Erzählung von den zwei Jüngern, die sich kurz nach dem Tod Jesu aufmachen in ein Dorf namens Emmaus. Im Gehen erzählen sie sich gegenseitig von den Ereignissen der vergangenen Tage und versuchen dadurch, ihre Betroffenheit und Traurigkeit über die Geschehnisse zu bewältigen. Schließlich gesellt sich ein Wanderer zu ihnen und verwickelt sie in ein Gespräch, spricht über die Geschichte Israels und die Propheten. Es ist Jesus, doch die beiden Jünger erkennen ihn nicht, sie sind zu sehr mit den vorhergegangenen Ereignissen beschäftigt. Erst durch ihre Einladung an den Wanderer, mitzukommen in ihr Haus und gemeinsam Abend zu essen, entsteht Beziehung und Nähe: im Teilen von Brot und Wein erkennen sie Jesus. Durch ihre Gastfreundschaft werden sie reich beschenkt: die Gemeinschaft mit Jesus, der auferstanden ist; ihnen gehen die Augen auf, sie erkennen den Sinn der Schrift und öffnen ihre Herzen.
Gastfreundschaft
Die Gastfreundschaft war schon immer eine wichtige Tugend in der Menschheitsgeschichte, schon in der Antike hatte sie besondere Bedeutung: sie achtet den Fremden und gibt ihm Herberge; sie schafft Beziehung zwischen den Völkern und verhilft zu einem friedlichen Zusammenleben. Auch heute gilt: der Wert einer Kultur zeigt sich in der Wertschätzung der Gastfreundschaft.
Im Alten Testament erfahren wir, dass die Gastfreundschaft zu den grundlegenden Lebensgesetzen bei den Nomaden gehört. Durch die Gastfreundschaft wird der rechtlose Fremde in die Mahlgemeinschaft des Gastgebers aufgenommen und steht somit unter dem Schutz der Hausgemeinschaft. Ist ein Fremdling zu Gast, wird ihm Wasser zur Reinigung angeboten (Gen 18,4), er wird mit Öl gesalbt (Ps 23,5) und reichlich bewirtet. Im Buch des Propheten Jesaja (Jes 58,7) hören wir: Gastfreundschaft gegenüber Armen ist ein Fasten, wie Gott es liebt! Weitere Beispiele, die vom rechten Umgang mit Gästen erzählen, finden sich in Gen 18,1-8 oder 2 Kön 4,8-11. Wer sich allerdings weigert, gastfreundlich zu sein, soll in Schande leben (Gen 19,5-7; Ri 19,16-26)!
Das Neue Testament übernimmt diese jüdische Tradition der Gastfreundschaft: Jesus lobt die Tugend der Gastfreundschaft, denn im Fremden bzw. im Armen begegnet uns Jesus selbst. (Mt 25,35-40; Mk 2,15). Wichtig ist die respektvolle Begegnung, der achtsame Umgang mit Fremden; sie sind Gäste und sollen nicht vereinnahmt werden; es braucht das Hinhören auf das, was diese brauchen, Offenheit für ihre Bedürfnisse. Paulus ermahnt in seinen Briefen im Neuen Testament zur Gastfreundschaft (Hebr 13,2).
"Gäste im Polizeianhaltezentrum"
Menschen, die sich in der Schubhaft befinden, sind in Österreich fremd. Sie kommen aus den verschiedensten Ländern und werden in Österreich festgenommen. Solange sie (im Polizeianhaltezentrum) angehalten werden, sind sie unsere Gäste - Gäste, die sich auf der Durchreise befinden. Für uns Seelsorger/innen - gerade in der "totalen Institution Polizeigefängnis" - entstand eine gewisse Verpflichtung gegenüber Schubhäftlingen zur Gastfreundschaft: die Sorge um körperliches (Ausstattung mit Kleidung, Hygieneartikel, Süßigkeiten, etc.) und seelisches Wohl der Menschen; das Gespräch und der Austausch über die jeweils eigene Tradition und Kultur; die kontinuierliche, regelmäßige Begleitung, die zu verstehen ist als Weggemeinschaft mit Einzelnen für die Dauer ihres Aufenthaltes; die Versorgung mit Lebens- und Genussmittel.
Ein Ort des Leidens
"Schubhaft ist ein Ort der Ohnmacht und des Leidens" - so die Formulierung einer Seelsorgerin in Norddeutschland. Eine treffende Formulierung, die auch für die Polizeianhaltezentren in Oberösterreich zugetroffen hat: Ohnmacht gegenüber dem System der Polizei und der Fremdenpolitik. Dieses System drängt Schubhäftlinge in eine Situation, in der sie total abgeschnitten sind und nicht mehr selbständig handeln können. Die rechtliche und humanitäre Unterstützung ist für diese Menschen gesetzlich (vermutlich bewusst) schlecht abgesichert. Ein Ort des Leidens, weil diese Menschen, und zwar bewusst politisch gesteuert, mit ihren Ängsten und Problemen alleine gelassen werden und jede menschliche Unterstützung strukturell erschwert oder manchmal sogar behindert wird.
Weggemeinschaft
So wie die Jünger Jesu auf ihrem Weg nach Emmaus eine Weggemeinschaft bilden, bestärkt durch die Begegnung mit dem unerkannten Wanderer, gibt es eine Weggemeinschaft mit den uns heute anvertrauten Fremden. Dieser gemeinsame Weg hilft und macht mutig, folgende Schritte zu gehen:
Reale Ängste und die Traurigkeit, ähnlich wie bei den Jüngern auf ihrem Weg nach Emmaus, müssen ernst genommen werden: die Frage nach dem "warum und weshalb bin ich eingesperrt?" dürfen nicht ungehört bleiben. Es braucht das offene Ohr und Herz, um die vorhandenen Ängste zu hören und mitzufühlen. Durch den genauen Blick auf diese Ängste und ihre (gesellschaftlichen) Ursachen, durch das kontinuierliche Gespräch gelingt es sehr oft, diese zu entkräften. Die Reflexion des eigenen Lebens- und Fluchtweges hilft, bestärkt durch die eigene religiöse und kulturelle Tradition, Gefühle von Angst und Ohnmacht zu lösen.
Wir nehmen Anteil am Leben der uns anvertrauten Gäste, und zwar durch ein empathisches Begleiten der Menschen und ihren leidvollen Erfahrungen auf der Flucht, aber auch in der Schubhaft in Österreich: die Einsamkeit durch die unerwartete Haft, die fehlenden Kontakte zur Familie, keine Informationen über den Aufenthalt. Die Anteilnahme für die Situation der Schubhäftlinge bedeutet auch unsere Offenheit und unser Mitgefühl gegenüber dem täglichen Unrecht, das Fremden und Menschen, die gesellschaftlich am Rande stehen, durch unsere Gesetze, durch die Politik oder unser Verhalten zugefügt wird. Die Leiderfahrungen der Menschen führt uns zur Frage nach dem Sinn des Lebens: durch den Glauben an den befreienden Gott ergibt sich für alle Leidenden eine neue Perspektive: die Überwindung der Ängste, Trost und Kraft durch das gemeinsame Gebet.
Nicht Jesus alleine tut Wunder und hilft den Kranken und Armen. Alle Christen haben, kraft ihres Glaubens, Anteil an der Kraft des lebendigen Gottes, werden befähigt, sich einzusetzen für die Verwirklichung des Reiches Gottes und für Gerechtigkeit: Jesus will das Leben in Fülle für alle Menschen, und jeder/jede Einzelne kann dazu beitragen (vgl. Röm 8,29). Durch die Mahlgemeinschaft mit Jesus gingen den Jüngern in Emmaus die Augen auf - in der Schubhaft teilen wir ganz bewusst Essen und Trinken, halten also gemeinsam Mahl, denn das gibt Kraft und macht uns bewusst, dass wir eine Gemeinschaft sind. Schubhäftlinge dürfen erfahren, dass sie nicht alleine sind; wir Seelsorger/innen werden bestärkt, die uns anvertrauten Gäste zu begleiten, konkret zu helfen und uns gegen Ungerechtigkeiten zu stellen. Die lähmende Hoffnungslosigkeit kann dadurch gelöst werden und manchmal geschehen auch Wunder - meist ganz kleine (Freundschaft entsteht, ein Polizist gibt und hilft, …), manchmal auch große (keine Abschiebung, Entlassung aus der Schubhaft).