Lesung aus dem Buch Deuteronomium:
In jenen Tagen sprach Mose zum Volk:
Wenn du die ersten Erträge
von den Früchten des Landes darbringst,
dann soll der Priester
den Korb aus deiner Hand entgegennehmen
und ihn vor den Altar des HERRN, deines Gottes, stellen.
Du aber
sollst vor dem HERRN, deinem Gott,
folgendes Bekenntnis ablegen:
Mein Vater war ein heimatloser Aramäer.
Er zog nach Ägypten,
lebte dort als Fremder mit wenigen Leuten
und wurde dort
zu einem großen, mächtigen und zahlreichen Volk.
Die Ägypter behandelten uns schlecht,
machten uns rechtlos
und legten uns harte Fronarbeit auf.
Wir schrien zum HERRN, dem Gott unserer Väter,
und der HERR hörte unser Schreien
und sah unsere Rechtlosigkeit,
unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis.
Der HERR führte uns mit starker Hand und hoch erhobenem Arm,
unter großem Schrecken,
unter Zeichen und Wundern aus Ägypten,
er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land,
ein Land, wo Milch und Honig fließen.
Und siehe, nun bringe ich hier die ersten Erträge
von den Früchten des Landes, das du mir gegeben hast, HERR.
Wenn du den Korb vor den HERRN, deinen Gott, gestellt hast,
sollst du dich vor dem HERRN, deinem Gott, niederwerfen.
Die Lesung beginnt und endet mit dem Opferritual ("wenn du" - "und siehe, nun bringe ich"). Doch liturgisch steht das Bekenntnis im Mittelpunkt: in der Forschung das "kleine geschichtliche Credo" genannt.
Im Bekenntnis wird die Geschichte erzählt, vergegenwärtigt und überliefert: es ist die Geschichte der Knechtschaft, in die ein heimatloser Aramäer (als Stammvater) geriet. Aber der Gott unserer Väter hörte das Schreien und sah die Rechtlosigkeit - und führte uns in dieses Land - hervorgehoben werden alte Gottesprädikate: mit starker Hand und hoch erhobenem Arm.
Zu diesem (Ur)Bekenntnis gehört das Opfer der ersten Früchte jeder Ernte in diesem Land, dass Gott seinem Volk anvertraut. Die "Erstlinge" gehören ihm. Ihm gehört alles. Die alte Verheißung verbindet mit diesem Land die Atttribute "Milch und Honig", Bilder für Reichtum und Schönheit. Im Opfer wird das Bekenntnis zu Gott sichtbar, das Bekenntnis aber führt zum Opfer. In beidem - Bekenntnis wie Opfer - wird auf Jahwe verwiesen und die Geschichte mit ihm immer neu gegenwärtig.
Anders als viele Bekenntnisse, die im Laufe der Zeit, meistens in Auseinandersetzungen, formuliert wurden, werden hier nicht Sätze aneinander gereiht, sondern eine Geschichte erzählt, die viele Lebensgeschichten verbindet und auf eine gemeinsame Erfahrung bezieht.
In der ersten Lesung aus dem Buch Deuteronomium geht es um das Darbringen der Erstlingsfrüchte. Mose wendet sich an die Sippenoberhäupter und beschreibt, wie die Erstlingsgaben in rechter Weise dargebracht werden sollen. Die Handlung besteht zunächst in der Übergabe des Korbes an einen Priester, der den Korb dann vor den Altar stellt. Nachdem dies geschehen ist, soll sich das Familienoberhaupt vor dem Herrn niederwerfen. Mit diesem Ritus wird vielleicht ein alter kanaanäischer Erntebrauch auf Jahwe hin umgedeutet. Sowohl bei der Darbringung der Gaben als auch beim Niederwerfen wird betont, dass es allein Jahwe ist, dem der Dank gilt. Nur Jahwe gilt die Ehre.
Diese Handlungen werden mit einem Bekenntnis verknüpft. Dieses Bekenntnis, das auch als das "kleine historische Credo Israels" bezeichnet wird, erinnert an die Heilstaten Gottes. Das Bekenntnis betont den Kontrast zwischen der Nomadenexistenz der Vorfahren und der gesicherten Existenz der gegenwärtigen Generation. Gott ist es, dem der Besitz des Landes zu verdanken ist, das die Früchte hervorgebracht hat.
Bei dem Credo (Verse 5–9) handelt es sich um einen kunstvollen Prosatext. Er lässt sich in 4 Abschnitte zu je 3 Sätzen aufteilen (Vers 5, Vers 6, Vers 7, Vers 8f.), die außerdem noch in sich dreigegliederte Satzpassagen vorweisen. Die Geschichte wird vor einem besonderen Horizont gedeutet. Es geht um die Befreiung aus der Sklaverei (Motiv: Versklavung - Befreiung). Der Aufbau folgt zudem folgendem traditionellen Schema: Not (Vers 6) - Klage - Erhörung (Vers 7) - helfendes Eingreifen Gottes (Verse 8f). Die Konzentration auf das befreiende Handeln Gottes erklärt auch, dass die Führung durch die Wüste und die Ereignisse am Sinai fehlen.
Die Formulierungen enthalten viele Anspielungen auf die alten Auszugserzählungen in Vers 8.
Die Freiheit, die nun durch das Eingreifen Gottes geschenkt ist, bedeutet in der altorientalischen Wirtschaftstruktur den Landbesitz, der nicht gestört wird, weder durch feindliche Übergriffe, noch durch Naturkatastrophen.
Die Lesung aus dem Buch Deuteronomium beschreibt einen Erntedankritus, den ein Familienoberhaupt nach der Erntearbeit im Jerusalemer Tempel zu vollziehen hatte. In diesen Dankritus eingearbeitet ist eine Art Glaubensbekenntnis, das die Geschichte des Volkes Israel - die Vorgeschichte auch der Familie, die den Erntedack feiert - zusammenfaßt.
Das Bekenntnis beginnt beim Nomadendasein der aramäischen Vorfahren, die unter die Vorherrschaft der Ägypter geraten sind. Dort wurden sie zwar zahlreich, lebten jedoch auf der untersten gesellschaftlichen Stufe. Gott erhört das Schreien seines Volkes, erweist sich als Jahweh ("Ich bin der 'Ich bin da'") und fürhrt sie in dieses Land, das sie nun bewohnen und bewirtschaften. Es ist sagenhaft reich. Es fließt von Milch und Honig.
Jedes Wort des Bekenntnisses spielt auf Momente der Exoduserzählung an. Die Befreiung endet noch nicht mir der Inbesitznahme des Landes. Sie reicht bis zur Eroberung Jerusalems und Errichtung des Tempels durch David und Salomo.
Als Anerkennung dieser von Jahweh gestalteten Geschichte vollzieht das Familienoberhaupt den Erntedankritus, bei dem es sich vor Gott niederwirft.
Manfred Wussow (2007)
Christiane Herholz (2004)
Hans Hütter (1998)