Auf Abwege geraten
Vergegenwärtigen wir uns die Geschichte vom verlorenen Sohn, von dem auf ihn wartenden Vater, um uns von ihr persönlich ansprechen zu lassen.
Der Jüngere der beiden Söhne fordert schon zu Lebzeiten seines Vaters sein Erbteil, was zwar erlaubt war, aber als unschicklich galt. Mit der Übergabe des Erbteils verwirkt er für die Zukunft alle weiteren Ansprüche. Bevor er in die Fremde zieht, hatte ihm der Vater vielleicht zu bedenken gegeben, ob das, was er jetzt vorhat, wirklich klug sei. Doch er konnte nicht anders, als ihm Freiheit zu gewähren.
Der Sohn zieht in ein fernes Land, wo er ein zügelloses und verschwenderisches Leben führt, sein Vermögen mit Dirnen durchbringt. Als dann eine Hungersnot das Land heimsucht, verdingt er sich als Schweinehirt. Er leidet aber Hunger, weil man ihm nicht einmal das Schweinefutter zu essen gibt, die ausgetrockneten Schoten des Johannisbrotbaumes. Nun weiß er nicht mehr ein noch aus. Tiefer hätte er nicht fallen können. Diese Situation äußerster Selbsterniedrigung führt ihn zu der Erkenntnis, dass er überhaupt noch überleben kann, wenn er den Weg nach Hause einschlägt. Dabei weiß er sehr wohl, dass er in seinem Vaterhaus keinerlei Ansprüche mehr stellen darf. Sein Entschluss war zwar aus der Not geboren, doch es wurde ihm bewusst, wie tief er gefallen war.
Der auf ihn wartende Vater
Was erwartet ihn? Der Vater sieht seinen Sohn schon von weitem kommen und geht ihm entgegen. Er fällt ihm um den Hals, um zu verhindern, dass sein Sohn sich vor ihm auf die Knie werfen muss. Er küsst ihn, lässt ihm das beste Gewand anziehen und ihm einen Siegelring an den Finger stecken. Er will ihm sagen: Du bist mein Sohn. Dann werden ihm Schuhe gereicht, was nur einem freien Menschen gebührt, im Gegensatz zu einem Sklaven, der barfuß gehen musste. Auffällig ist, dass der Vater kein Wort der Vergebung ausspricht, sondern ihm durch Gesten der Liebe zeigt, dass nun alles gut ist. Und dann sagt der Vater zu den Knechten: "Wir wollen essen und fröhlich sein. Denn mein Sohn war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wieder gefunden worden." Er war tot, denn er hatte sich der Liebe seines Vaters versagt. Nun lebt er wieder.
Der Vater spricht nicht vom zurückgekehrten, vielmehr vom wiedergefundenen Sohn. Seine Sehnsucht, den in die Irre gegangenen Sohn wieder zu finden, ist in Erfüllung gegangen. Und dann feiert er mit seinem Sohn ein Fest, als wäre nichts geschehen. Der Vater, es hätte auch eine Mutter sein können, stellt keinerlei Bedingungen. Er will auch nicht, wie der Sohn es selber vorgeschlagen hatte, dass er als Tagelöhner arbeitet, sozusagen als Buße und als Wiedergutmachung. Der Vater hätte auch niemals gesagt: Diesmal verzeihe ich dir noch einmal, ich gebe dir die Chance, dich zu bewähren. Wenn du aber rückfällig wirst, kannst Du nicht mehr mit meiner Liebe rechnen. Das sagen wir Menschen vielleicht. Doch Gott ist anders. Dieser auf seinen Sohn wartende gütige Vater würde, denke ich, auch ein zweites Mal da gestanden haben. Er wäre seinem Sohn entgegen gegangen, hätte ihn in die Arme geschlossen.
Der daheim gebliebene Sohn
Dem daheim gebliebenen Sohn, der sich nicht mit dem Vater über die Heimkehr seines Bruders freuen kann, sagt der Vater: "Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein. Aber jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern; denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden." Mit diesem abschließenden Wort des Gleichnisses über die grenzenlose Liebe des Vaters und über das dem Sohn neu geschenkte Leben, ist alles gesagt.
Der unbegreiflich gute Gott
Jesus will mit dem Gleichnis vom verlorenen und wieder in Liebe aufgenommenen Sohn unseren Blick hinwenden auf Gott, der unbegreiflich gut ist, grenzenlos vergebungsbereit. Uns begegnet kein Gott, der uns Vorleistungen abverlangt, damit er uns erst daraufhin lieben kann. Er stellt nur eine Bedingung: Dass wir uns seiner Liebe öffnen. Wenn Gott uns immer wieder verzeiht, uns heilt von unserer Schuld, dann können wir nicht anders, als den Menschen, die nicht gut an uns gehandelt haben, versöhnlich zu begegnen, ihnen ihre Schuld nicht nachzutragen.
Der zweite Sohn ist eigentlich der verlorene Sohn, der noch nicht wieder gefunden wurde. Er lässt sich nicht heilen von seiner Überheblichkeit dem Bruder gegenüber. Er lässt sich nicht heilen von seinem berechnenden Denken, das dem Vater den verdienten Lohn abverlangt. Vielleicht muss er selber einmal in Schuld fallen, um sie als heilsam zu erkennen und auf diesem Weg Gottes unentwegte Liebe zu erfahren. Dies wäre eine felix culpa, eine glückliche Schuld!
Jesus meint auch uns
Das Verhalten des zweiten Sohnes, mit dem Jesus die Pharisäer und Schriftgelehrten meint, kann uns zum Nachdenken bringen. Wir möchten sicher keine Pharisäer sein, die die auf Abwege geratenen Menschen verachten und verurteilen. Aber müsste ich mich nicht dennoch fragen, ob ich von Selbstgerechtigkeit ganz frei bin? Kann es nicht sein, dass wir diejenigen, die Schlimmes begangen haben, abschreiben? Warum schließen wir aus, dass sie ihre Schuld einsehen und von ihrem Tun ablassen? Maße ich mir ein Urteil an über Menschen, von deren Lebensumständen und Problemen ich kaum etwas weiß?
Jesus hatte das Gleichnis vom verlorenen Sohn und dem auf ihn wartenden Vater den sich tugendhaft gebärdenden Pharisäern und Schriftgelehrten erzählt. Ihnen, und auch uns, will er sagen: Gott lässt niemals einen Menschen fallen, mag er sich auch ins Weglose verirrt haben. Gott hält immer einen Weg für ihn offen. So tief wir fallen mögen, wir fallen immer in die Hände Gottes.
Ich möchte schließen mit einem Wort von Dietrich Bonhoeffer:
Wo die Menschen sagen: "verloren" - da sagt er: "gefunden".
Wo die Menschen sagen: "gerichtet" - da sagt er: "gerettet".
Wo die Menschen sagen: "nein" - da sagt er "ja".