Die literarische Gestalt der Erzählung.
Die Geschichte von den Arbeitern im Weinberg zählt zu den bekanntesten Gleichnissen. Sie ist jedoch nicht so leicht zu deuten, wie es auf den ersten Blick scheint. Wir haben wieder eine Parabel vor uns mit den für sie typischen Merkmalen. Denn sie nimmt einen Verlauf, den man so nicht erwarten kann. Auf eine überraschende, provokative Weise wird sie zu Ende geführt.
Goethe hat einmal gesagt, dass Jesus mit seinen gleichnishaften Erzählungen in der Weltliteratur unübertroffen sei. Man darf in Erzählungen, wie es auch die Gleichnisse sind, durchaus ein literarisches Kunstwerk sehen, denn die künstlerische Gestaltung einer Erzählung hat auch etwas mit ihrem Inhalt zu tun. Die Weinbergsparabel mit ihren gestalterischen Elementen kann dafür ein Beispiel sein. Ihre Handlung entwickelt sich in drei Schritten: Die Anwerbung der Arbeiter, der Konflikt bei der Auszahlung, die Klärung im Schlussdialog. Am Geschehen sind drei Personen bzw. Personengruppen beteiligt: Der Weinbergbesitzer, die zuerst angeworbenen Arbeiter und diejenigen, die als letzte in den Weinberg gegangen und nur eine Stunde gearbeitet haben. Weiter gibt es die damals üblichen vier Zeitabschnitte des Tages im Drei-Stunden-Rhythmus, in denen die Arbeiter angeworben werden. Auch dies ist kunstvoll gestaltet, denn auf diese Weise wird erreicht, dass eine ungleiche Arbeitsleistung zustande kommt.
Das Verhältnis von menschlicher Leistung und göttlichem Lohn
Jesus lag daran, im Handeln des Gutsherrn gleichnishaft die alles menschliche Maß überschreitende Liebe Gottes zur Sprache zu bringen. In der Parabel geht es um das Verhältnis von menschlicher Leistung und göttlichem Lohn. Es wird nicht gesagt, anders als vor den drei Gleichnissen im 15. Kapitel des Lukasevangeliums, an wen die Parabel gerichtet ist. Doch auch hier könnte man an die Schriftgelehrten und Pharisäer denken, die von Gott ihren gerechten, ihren verdienten Lohn erwarteten. Am Schluss des Kapitels, das der Parabel vorausgeht, wird von einem Gespräch zwischen Petrus und Jesus erzählt. Petrus fragt Jesus, was der Lohn sei, den er für den Weg in seiner Nachfolge erhalte. "Du weißt, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. Was werden wir dafür bekommen?" Jesus antwortet mit dem Hinweis auf den geistigen Lohn, auf "das Hundertfache", und auf den Lohn im ewigen Leben (Mt 19, 27-30). Es ist nicht auszuschließen, dass der Evangelist mit der hier angesprochenen Lohnfrage schon die frühen judenchristlichen Gemeinden im Blick hatte. Auch ihnen wird sich die Frage nach dem Verhältnis von Verdienst und Lohn gestellt haben. Wie entlohnt Gott diejenigen, die dem Ruf Jesu nachgekommen sind und sich in seinen Dienst gestellt haben? In der Erzählung von den Arbeitern im Weinberg hat Jesus darauf eine Antwort gegeben.
Der menschliche Kontext der Geschichte
Schauen wir zunächst auf das, was sich auf der menschlichen Ebene abspielt. Die Ablauf der Handlung wird vom Weinbergsbesitzer bestimmt. Während dem Verwalter in der Auszahlung des Lohnes nur eine Nebenrolle zukommt, wirbt der Herr des Weinbergs selber die Arbeitskräfte an und ist auch bei deren Entlohnung anwesend, um seine scheinbar ungerechte Handlungsweise zu rechtfertigen. Am Morgen wirbt er Tagelöhner für die Arbeit in seinem Weinberg an; wahrscheinlich war die im August anstehende Traubenernte gemeint. Er vereinbart mit ihnen einen Denar, den üblichen Tageslohn, mit dem unter den damaligen Verhältnissen auch eine mehrköpfige Familie einen Tag lang ihr Auskommen hatte. Im Ablauf des Tages gewinnt er neue Arbeiter hinzu.
Als er um die dritte Stunde Menschen antrifft, die keine Arbeit hatten, werden sie von ihm aufgefordert, in seinen Weinberg zu gehen. Wenn er ihnen sagt: "Was recht ist, werde ich euch geben"", so wird damit schon auf den Ausgang der Geschichte hingedeutet. Um die sechste und neunte Stunde geht er noch einmal auf den Markt.
Erst sehr spät, in der elften Stunde, entdeckt er Männer, die den ganzen Tag untätig herumstanden. Auf seine Frage, warum sie nicht arbeiteten, geben sie zur Antwort: "Niemand hat uns angeworben" (Mt 20,7). Daraufhin lassen sie sich in den Weinberg schicken. Obwohl der Bedarf eigentlich gedeckt war und es nicht mehr viel zu arbeiten gab, wollte der Gutsherr auch ihnen die Möglichkeit geben, etwas für den Unterhalt ihrer Familie zu verdienen. Er lässt ihnen den Tageslohn von einem Denar auszahlen, der ihnen rechtlich gesehen nicht zustand. Kein Arbeitsgeber würde sich in der Auszahlung des Lohnes so verhalten. In der Parabel ist die übliche Entlohnungspraxis, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, aufgehoben.
Ein ungerechter Weinbergbesitzer?
Die Arbeiter, die zuerst angeworben wurden, nehmen in der Parabel eine Schlüsselstellung ein. Denn mit ihrer Einschätzung von gerecht und ungerecht war der Konflikt mit dem Herrn des Weinbergs vorprogrammiert. Sie waren gegen ihn aufgebracht, machten ihrem Ärger Luft, weil sie zuletzt entlohnt wurden und mit ansehen mussten, wie die zu später Stunde Angeworbenen, die nur kurze Zeit im Weinberg gearbeitet hatten, den gleichen Lohn erhielten wie sie, die sie von früh bis abends in der Hitze des Tages ihrer Arbeit nachgegangen waren. Wenn man die im Arbeitsleben geltenden Maßstäbe anlegt, so muss man das Verhalten des Weinbergbesitzers als ungerecht ansehen.
Angemerkt sei, dass die zuerst Angeworbenen nicht auf Israel hin gedeutet werden dürfen und die zuletzt Hinzugekommenen nicht auf die so genannten Heidenvölker. Die Ersten repräsentieren auch nicht die gesetzesstolzen Pharisäer und die Letzten die von Jesus gerufenen Sünder. Jesus hat in der Parabel alle jene Menschen im Auge, die sich auf ihre Leistung berufen und den entsprechenden Lohn fordern, und er stellt sie denen gegenüber, die nicht so viel aufzuweisen haben und doch den gleichen Lohn erhalten. Und hier müssten wir uns fragen, zu welchen wir gehören wollen. Zu denen, die auf ihren Lohn pochen oder zu denen, die sich unverdient beschenkt wissen.
Ungeschuldet
Der Herr des Weinbergs wirbt gleichsam um das Einverständnis der Arbeiter. Vielleicht sagt er deswegen zu dem angesprochenen Arbeiter: Mein Freund. "Mein Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart? Nimm dein Geld und geh!" Dem Herrn des Weinbergs liegt vor allem daran, die Freiheit seines Handelns zu betonen: "Ich will dem letzten ebenso viel geben wie dir. Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will?" In diesen Worten erschließt sich der Sinn der Parabel, ihr Grundgedanke. Der Wille des Gutsherrn, dem, der zuletzt und nur kurz im Weinberg gearbeitet hat, den gleichen Lohn auszuzahlen wie dem, der den ganzen Tag seine Arbeit getan hat, entspringt nicht einer Laune. Der alleinige Grund liegt darin, dass er gut ist. Er fragt nicht danach, wer mehr oder wer weniger gearbeitet hat, sondern belohnt die zuletzt Gekommenen in gleicher Weise wie die zuerst Angeworbenen. Ungeschuldet.
Matthäus hat zwar das der Parabel hinzugefügte Wort von den Letzten und den Ersten auf das endzeitliche Gericht bezogen, es lässt sich aber auch im Kontext der Parabel deuten. Dabei geht es nicht um das Verhältnis der Letzten zu den Ersten, sondern um das der Ersten zu den Letzten. Denn die Ersten sind aufgefordert, auch den Letzten ihren Lohn zuzugestehen, sich zu lösen von einem rein rechnerischen Denken, das einzig nach dem gerechten Lohn für die geleistete Arbeit fragt. Eine solche Denkungsart führt zu Missgunst. Die Arbeiter, die Gerechtigkeit einfordern, gönnen den anderen nicht den ihnen zugeteilten geschenkten Lohn. So fragt der Gutsherr einen der gegen ihn aufgebrachten Tagelöhner: "Ist dein Auge etwa böse, weil ich gut bin?" Im alttestamentlichen Sprachgebrauch ist das "böse Auge" eine Metapher für Neid und Missgunst. Die Parabel wirbt um das Einverständnis derer, die sich in der Situation der empörten und missgünstigen Ersten befinden.
Den Blick auf Gott hinlenken
Wir sind gewohnt, von der Parabel der Arbeiter im Weinberg zu sprechen. Eigentlich müsste man sie "die Parabel vom gütigen Weinbergsherrn"" nennen. Mit der Bildgeschichte von diesem gütigen Mann will Jesus unseren Blick auf Gott hinlenken. Sie lässt uns ein wenig erahnen, wie Gott uns Menschen gesonnen ist. Von Gott können wir indes nur gleichnishaft, in Bildern sprechen, weil er alles menschliche Begreifen übersteigt. Nach den Worten des Ignatius von Loyola ist er semper magis, immer größer. Unendlich größer vor allem in seiner Liebe. Diese unwahrscheinlich erscheinende Geschichte vom gütigen Weinbergsbesitzer hat Gott wahr gemacht in seiner vorbehaltlosen Liebe Gottes einem jeden Menschen gegenüber. Er fragt nicht, ob wir seine Liebe verdient haben. Niemandem, und mag sein Handeln auch noch so unzulänglich sein, entzieht er seine Liebe.
In der Bergpredigt sagt Jesus über die Liebe zu den uns nicht gut gesonnenen Menschen, dass Gott seine Sonne aufgehen lässt über Bösen und Guten, und regnen lässt über Gerechte und Ungerechte (Mt 5, 45). Das hat Jesus besonders jene Menschen erfahren lassen, die in den Augen der Selbstgerechten nichts galten, sich von ihm jedoch in ihrer Schwachheit angenommen und geliebt wussten. Im Glauben an seine grenzenlose Güte werden alle unsere Berechnungen hinsichtlich "verdient"" oder "nicht verdient" ihre Gültigkeit verlieren. Gott macht einen Strich durch unsere Rechnung. Mit unseren Rechenkünsten verrechnen wir uns immer, denn Gott schenkt unverdient, ungeschuldet. "Ich will dem letzten ebenso viel geben wie dir. Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will?" Gott handelt in der Freiheit seiner Liebe auch denen gegenüber gut, die es nicht verdient haben. Und dazu zählen wir alle. Hier noch einmal das Wort von Helmuth Thielecke: "Gott liebt uns nicht, weil wir so wertvoll sind, sondern wir sind so wertvoll, weil er uns liebt."
Wenn wir wahrnehmen, wie unbegreiflich gut Gott an uns handelt, wie er uns mit seiner Liebe beschenkt, weit mehr als wir verdienen, dann wird dies auch zur rechten Selbsteinschätzung im Blick auf andere führen. Wir hätten dann wirklich keinen Grund, uns mit ihnen zu vergleichen oder uns sogar besser zu dünken als sie. Wir gehören ohne unser Verdienst zu denen, an die schon früh der Ruf Jesu ergangen ist, und wir versuchen, ihm zu folgen. Andere haben später erst, vielleicht nach langem Suchen, sich von Gott finden lassen. Sie durften erfahren, dass er ihnen seine ungeteilte Liebe schenkt. Ihnen nicht weniger als den zuerst Gerufenen. "Ich will dem letzten ebenso viel geben wie dir." Der Lohn für alle, für die Ersten wie für die Letzten, wird Gott selbst sein.
Gott, von deiner Liebe leben wir alle,
und doch teilen wir die Menschen ein
in solche, die viel, und solche, die wenig leisten,
in solche, die mehr und die weniger taugen.
Durchkreuze unsere Einteilungen
Und lass uns danach fragen,
wer Zuwendung und Güte braucht.
Von deiner Liebe leben wir, Gott.
Wir berechnen, was wir verdient haben
an Zuwendung und Wohlergehen,
was uns geschuldet wird an Anerkennung und Verständnis,
wie oft wir zu kurz kommen im Vergleich zu anderen.
Mach einen Strich durch unsere Rechnungen
und lass erkennen:
Von deiner Liebe leben wir, Gott.
Unsere Rangordnungen überwinde,
damit unser Herz sich auch für den Letzten öffne.
Und wenn wir von der Höhe unserer Selbstüberschätzung herabstürzen,
fange uns auf mit deiner Güte.
Dann sind wir erlöst,
weil wir nicht mehr beweisen müssen,
wie stark und bedeutend wir sind.
Wir sind erlöst,
weil wir Frieden machen können mit unserer Schwachheit.
Denn deine Barmherzigkeit schenkt uns Flügel,
und von deiner Liebe leben wir, Gott.
(Bernhard Scholz)