Jesus-Partei
Heute wird in Deutschland ein neuer Bundestag gewählt. An Laternenpfählen, Bäumen und auf Plakaten werden die tollkühnsten, langweiligsten und nichtssagendsten Parolen ausgehängt, mal mit, mal ohne den dazu gehörenden Gesichtern. Ich mag das nicht alles aufzählen. Fürchte auch, nicht gerecht zu sein.
Aber stellt euch vor: Ein Slogan, ein wenig versteckt, taucht auf: „Die Letzten werden die Ersten sein“. Und darunter: Jesus-Partei. Gewöhnungsbedürftig? Fremdartig? Unmöglich? Aber beim Wort genommen, ist das schon eine umwerfende Aussage. Meinetwegen aber auch die alte. Wir sehen, dass Gott eine eigene Sicht auf seine Schöpfung hat. Wir können dazu Bilder, Geschichten, Parolen finden – ein (Ideen)Wettbewerb, sozusagen. Wir nehmen alles noch einmal in die Hand, was wir kennen, verdrängen oder glorifizieren, wir wägen ab, was sich bei uns einnistet oder einschmeichelt, wir zeichnen neu aus, was wir abschreiben oder längst verloren gegeben haben. Seien es Erfahrungen, seien es Menschen.
Jesus-Partei – das gefällt mir. Der Name drückt aus, dass Jesus Partei ergreift. Im besten Sinn des Wortes - parteiisch. Und dass wir Partei ergreifen. Auch im besten Sinn - parteiisch. Parteigänger, eben. Jesus hat sich entschieden. Für uns. Für die Menschen. Für die Welt. Es gilt, sich zu ihm zu bekennen!
Erste und Letzte
Nehmen wir das Evangelium! So provokant und herausfordernd ist uns schon lange kein Evangelium über den Weg gelaufen! Stellt euch vor: die, die zuletzt in den Weinberg gehen, bekommen denselben Lohn wie die, die vom frühen Morgen an sogar in der Mittagshitze geschuftet haben. Körperlich. Einen ganzen Tag. Dass im Laufe des Tages immer wieder neue Tagelöhner dazu kommen, erhöht die Spannung nur. Am Ende schreit – in den Augen der Leute – die Ungerechtigkeit. Selbst den „Letzten“ wird mulmig zu Mute gewesen sein. Ich sehe das schlechte Gewissen schon auf ihren Gesichtern. Doch in der Geschichte Jesu kommen, merkwürdig genug, nur die – Ersten vor. Von ihnen heißt es: „Da begannen sie, über den Gutsherrn zu murren, und sagten: Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgestellt; wir aber haben den ganzen Tag über die Last der Arbeit und die Hitze ertragen.“ Originalton. Hier die Ersten – dort die Letzten. Wie hört sich Murren eigentlich an?
Keine gute Geschichte für Gewerkschafter, Arbeitsmarktforscher und Wirtschaftspolitiker. Von uns käme keiner auf die Idee, eine solche Geschichte zu erzählen – oder wenn, dann als Karikatur, als Persiflage, als Kabarett. Auch nach der kath. Soziallehre, nach den ökumenischen Stellungnahmen zu einer gerechten Wirtschaft, nach Predigten von Papst Franziskus ist gerechte Entlohnung ein so großes Thema, dass die vielen Ungerechtigkeiten, die es nach wie vor weltweit gibt, immer wieder neu ausgeleuchtet werden. Ist Jesus noch bei Verstand? Oder verstehen wir ihn nur nicht? Dass die Letzten die Ersten sein werden, wollen wir nicht glauben. Können wir nicht glauben. Vielleicht auch, weil wir – gefühlt, berechnend oder mit Statussymbolen unterstrichen – natürlich die Ersten sind? Und zu bleiben gedenken? Nicht unwichtig: Jesus erzählt eine Geschichte von Ersten. Für Erste.
Selbst wenn ich mich nicht dazu rechne - ratlos bin ich trotzdem. Was mache ich jetzt?
Auf dem Markt
Schauen wir auf den Anfang, wird uns eine Geschichte angekündigt, die auf einem Markt spielen wird. Einen Arbeitsmarkt. Tatsächlich. Damals tummelten sich da die Menschen, genauer, die Männer, die für den Tag Arbeit und Brot für ihre Familien suchten. Feste Anstellungen mit Tarifvertrag, betrieblicher Altersversorgung und Rechtsschutz waren noch nicht erfunden, auch noch nicht erkämpft. Selbst die Generation Praktikum war noch nicht gesichtet. Das Modell hier heißt: Tagelöhner. Die einen werden genommen, die anderen nicht. Die einen hatten einen ganzen Tag zu tun, die anderen kamen nur auf ein, zwei Stunden. Zu Hause warten Frauen und Kinder. Man lebte von einem Tag zum anderen. Perspektive für die Zukunft? Ungewiss. Am besten, du denkst nicht groß nach. Das Spiel wird jeden Tag gespielt. Jeden Tag Hoffnung, jeden Tag Enttäuschung. Heute Lohn, morgen nichts. Ich sehe sie auf dem Markt, die Tagelöhner. Wer warten muss, wer nicht gleich dran kommt, lungert notfalls den ganzen Tag herum, muss aber präsent sein. Dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Und warten. Wer geht, hat keine Chance. Verfluchtes Leben.
Ich muss jetzt nicht erzählen, dass es bis heute Tagelöhner gibt, die eine Wegwerfgesellschaft im Kleinen sind. Die auf Baustellen und in Erntezeiten missbraucht werden. Die für einen Apfel und Ei arbeiten. Die nicht wohnen, die nur hausen. Möglichst versteckt. Den Reibach machen andere. Die fahren mit Stern vor den Augen. Vielleicht schaffen sie es sogar, als Unternehmer einen Preis zu bekommen. Schlimmstenfalls haben sie mit einem Verfahren zu rechnen. Gute Anwälte sind dann ihr Geld wert. Es ist klar, wer Erste sind und wer Letzte. Entschuldigung. Das Letzte.
Und Jesus erzählt eine Geschichte davon. Mit Protagonisten, die wir eigentlich kennen. Ein Markt ist immer ergiebig für Geschichten. Die Menschen erzählen viel. Sie klagen. Sie spielen. Sie schlagen die Zeit tot. Sie sind müde. Selbst, wenn sie den ganzen Tag nichts machen konnten. Eine bleierne Stimmung liegt über dem Markt. Wer ist hier Gewinner? Wer Verlierer?- In der Geschichte Jesu werden die Letzten Gewinner – und die Ersten!! Wirklich, beide! Die Letzten, weil sie für diesen Tag ein volles, gelungenes Leben haben. Die Ersten, weil auch sie ein volles, gelungenes Leben haben. Weil sie alle satt werden. Auch die, die nicht jeden Tag satt werden. An einem Tag – mehr muss es jetzt nicht sein – haben alle, was ihnen ein Tag gewähren kann. Der Tag wird zu einer Chiffre des gelungenen und satten Lebens. Haben die Ersten, die murren, nicht die Hoffnung, dass ihnen morgen auch der volle Lohn gezahlt wird, wenn sie die Letzten wären? Warum murren sie heute? Am Abend eines Tages? Ein Tag lässt sich nicht abrechnen, die Woche nicht, das Leben nicht. Jesus lehrt uns beten: Unser tägliches Brot gib uns heute. Was in der Geschichte so ärgerlich und unbequem ist, wird zu einer Begegnung in einer neuen Welt. Bei Lichte betrachtet: Klüger kann eine Geschichte nicht sein, die Tagelöhnern ein erfülltes Leben verspricht. Und weitsichtiger kann eine Geschichte nicht sein, die von einem Tag erzählt, der für alle Tage steht. Darum erzählt Jesus ein Gleichnis. Ein Gleichnis vom Himmelreich. Mit dem Reich Gottes ist es so … Mit dem Reich Gottes verhält es sich so … Mit dem Reich Gottes wirst du …
Ökonomisches Manifest
Je länger ich mich in dieser Geschichte tummle, umso schöner wird sie mir. Natürlich erzählt sie von der Güte und Weitsicht Gottes. Ich kann sie auch erbaulich und fromm nacherzählen. In höchsten Tönen. Aber sie erzählt dann doch auch davon, dass nach Gottes Willen jeder Mensch jeden Tag gut leben kann. Was mehr ist, als nur über die Runden zu kommen. Der Tag steht für erfülltes Leben. Für Glück.
Über die Schere von arm und reich zu reden, heben uns für ein andermal auf, aber dass Menschen, bewusst in Kauf genommen, abgehängt werden und abgehängt bleiben, Füllmasse und Abfallprodukte in einer durchaus reichen Welt, wird uns in diesem Evangelium offengelegt. Vor die Füße gelegt. Offenbart.
Wir sehen Menschen, die in der Verkleinerungs- oder Verniedlichungsform „Flüchtlinge“ genannt werden und auf unseren Arbeitsmärkten oft auch keinen besseren Status haben als die Tagelöhner einst. Sie möchten sich einbringen (sprich: integrieren), dürfen aber nicht. Paragraph sowieso.
Wir sehen Menschen, die auf den Arbeitsmärkten nicht mehr vermittelbar sind, weil sie psychisch labil oder nicht belastbar sind - und auch nicht mehr an sich glauben.
Wir sehen auch Menschen, die nie gelernt haben, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen, die Zeit und Leben verplempern.
Viele Geschichten, die im Evangelium einen Platz finden.
Die Güte und Weitsicht Gotteswird uns anvertraut und zum Maß gemacht. Genau genommen ist die Geschichte, die Jesus erzählt, ein ökonomisches Manifest. Es geht um Lebensbedingungen – und um Gerechtigkeit. Um Gerechtigkeit auch für die, die keine Chance haben, Erste zu werden. Oder Erste zu bleiben. Es gibt die Letzten. Es gibt auch die letzten Plätze. Die letzten Gelegenheiten. Was gerecht ist? Gerechter Lohn? Mir geht heute auf: was ich als gerecht ansehe, kann in hohem Maße ungerecht sein. Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte. Jeder Mensch braucht auch seine Gerechtigkeit. Seinen Fürsprecher. Seinen Tag! Am Abend soll nicht der Hunger stehen. Oder das misslungene Leben. Oder die Bitterkeit, wieder versagt zu haben. Dass Jesus den Tagelöhnern ein Denkmal setzt, ist auch im Evangelium einmalig – liegt aber ganz auf seiner Linie. In seiner Bergpredigt sagt Jesus: „Sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat“ (Mt. 6,34).
Letzte Sätze
Lassen wir die letzten Sätze der beiden Lesungen und des Evangeliums noch einmal Revue passieren: Der Prophet Jesaja: „So hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege und meine Gedanken über eure Gedanken.“ Paulus in seinem Brief nach Philippi: „Vor allem: lebt als Gemeinde so, wie es dem Evangelium Christi entspricht.“
Und dann Jesus: „So werden die Letzten die Ersten sein.“
Letzte Sätze klingen nach Vermächtnis. Wie letzter Wille. Oder einfach: so ist es. Das ergibt an diesem Sonntag ein illustres Bild. Ganz nach Gottes Art. Wie er sich die Welt vorstellt, die er geschaffen hat und immer neu schafft. Ein Slogan, ein wenig versteckt, taucht auf: „Die Letzten werden die Ersten sein“. Und darunter: Jesus-Partei. Zu ihr gehöre ich doch, sage ich mir. Und es ist ein toller Gedanke. Es muss doch nicht alles so bleiben, wie es ist – oder?
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.