Lesung aus dem Buch Kohelet:
Windhauch, Windhauch, sagte Kohélet,
Windhauch, Windhauch,
das ist alles Windhauch.
Denn es kommt vor,
dass ein Mensch,
dessen Besitz durch Wissen, Können und Erfolg erworben wurde,
ihn einem andern,
der sich nicht dafür angestrengt hat,
als dessen Anteil überlassen muss.
Auch das ist Windhauch
und etwas Schlimmes, das häufig vorkommt.
Was erhält der Mensch dann durch seinen ganzen Besitz
und durch das Gespinst seines Geistes,
für die er sich unter der Sonne anstrengt?
Alle Tage besteht sein Geschäft nur aus Sorge und Ärger
und selbst in der Nacht kommt sein Geist nicht zur Ruhe.
Auch das ist Windhauch.
Kohelet gehört zur späteren alttestamentlichen Weisheitsliteratur. Sie ist in eine Krise geraten. Lebenserfahrungen und "Weisheit" passen nicht mehr zusammen. Waren in den früheren Proverbien (Sprüche) noch Sätze gesammelt, die Sicherheit und Verlässlichkeit versprachen (Tun-Ergehen-Zusammenhang), stellt sich jetzt Ernüchterung und Enttäuschung ein. Auffällig ist die - fast zeitgleiche - Verwandtschaft mit der altorientalischen und ägyptischen Weisheitsliteratur.
Die Lesung aus dem Buch Kohelet spiegelt die Skepsis wider: Alles ist einem Windhauch gleich, selbst Bildung und Leistung sind nicht verlässlich, nicht einmal in der Nacht ist Ruhe. Ob alle Tage wirklich "nur aus Sorge und Ärger" bestehen? Die Lesung hört auf, wo Antworten erwartet werden. Im Gottesdienst vorgetragen, sieht der Mensch sich und seine Welt ungeschminkt. Was Kohelet mit "Windhauch" bezeichnet, drückt die Vergänglichkeit und Flüchtigkeit aus, die den Dingen eignet, auf die ein Mensch sein Vertrauen setzt. "Was erhält der Mensch dann durch seinen ganzen Besitz und durch das Gespinst seines Geistes, für die er sich unter der Sonne anstrengt?" Das ist weder depressiv noch pessimistisch, sondern geklärte und abgewogene Lebenserfahrung - sprich: "weise".
Es liegt viel daran, die Lesung gut vorbereitet und akzentuiert vorzutragen.
Die Lesung ist so zugeschnitten, dass in ihrem Horizont die zweite Lesung und das Evangelium aufscheinen: Nicht das Wissen um den "Windhauch" stellt das letzte Wort dar - es geht darum, den "Sinn auf das Himmlische und nicht auf das Irdische" zu richten - oder wie es im Evangelium heißt: reich bei Gott zu sein.
Das Buch Kohelet, das zu den späten Büchern des Alten Testaments gehört (3. Jhdt. v. Chr.), wird von vielen Bibelwissenschaftern unter dem Stichwort "Krise der Weisheit" verhandelt. Das Gefühl, in einer gerechten, wohlgeordneten Welt zu leben, das für das traditionelle Weisheitsdenken charakteristisch war, scheint in dieser Zeit brüchig geworden zu sein. Dagegen erhebt sich im Buch Kohelet die Erfahrung, daß es in der Welt keinesfalls gerecht zugeht.
Trotzdem bleibt für Kohelet der Ausgangspunkt seiner Reflexionen die Frage nach dem glücklichen, sinnerfüllten Leben. Die Argumentation richtet sich dabei darauf, daß der Mensch aus eigener Anstrengung nicht glücklich werden kann. In der vorliegenden Perikope wird z. B. auf die Verzweiflung hingewiesen, würde man sein Leben nur vom Streben nach Besitz und von der Arbeit her definieren.
Das Windhauch-Urteil Kohelets wird in diesem Kontext oft als Bekennen einer radikalen Absurdität und Sinnlosigkeit mißverstanden. Das wird dem Anspruch des Buches freilich nicht gerecht. Die Windhauchaussage bezieht sich niemals auf Gott oder den Kosmos, sondern immer nur auf die Welt menschlichen Handelns. Allein sie ist für Kohelet absurd und wird deshalb radikal in Frage gestellt.
Gleich im Einleitungsvers kommt das Wort "Windhauch" fünfmal. Die Grundstimmung ist: Der Mensch verfügt über keinen umfassenden Sinn, sondern kann sich nur dem unbegreiflichen Gott anvertrauen. Dem Menschen bleibt am Ende nichts von all seiner Anstrengung. Diese pessimistischen Aussagen werden auch heut offene Ohren finden: wir planen geglücktes, sicheres Leben, doch Schicksale durchkreuzen dies immer wieder
Streß, Burn-out-Erfahrungen, Scheitern von Beziehungen, Krankheiten ...
In Deutschland sterben ungefähr so viele Menschen, die am Lebenssinn zerbrechen, wie durch Unfalltod. Wir wollen uns mit der Auskunft des Kohelet: "Alles ist Windhauch, alles ist nichtig", nicht abfinden.
Manfred Wussow (2007)
Martin Leitgöb (1998)