Gut gebrüllt?
Zum Pfingstfest in diesem Jahr war im Hallenstadion Zürich mal wieder einiges los. Draußen vor den Toren des Stadions standen protestierende Gruppen und warteten auf das Ziel ihrer Aktionen. Aus Amerika gekommen war nämlich der 'Mähdrescher Gottes' - wie sich der deutschstämmige evangelikale Prediger Reinhard Bonnke selbst gern nennt. Fernsehdokumentationen zeigen eindrückliche Bilder seiner Auftritte. Bonnke peitscht das Publikum ein und erzeugt gleichsam eine Massenhysterie, die dann in den Stadien um sich greift. In Chören schreien die Menschen seine Botschaften nach. Von einer systematischen Reflexion des Evangeliums findet man in seinen Predigten keine Spur. Allein der Effekt zählt, nicht die Beherzigung. Spricht man mit Menschen, die bei solchen 'Gottesdiensten' dabei waren, beschleicht einen das Gefühl, dass diese 'Opfer' solcher Predigten eher eine Gehirnwäsche als eine Verkündigung erlebt haben.
Wort Gottes in Menschen hineinbrüllen - geht das? In mir wird das Wort des Propheten Jesaja laut: "Hören sollt ihr, hören, aber nicht verstehen; sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen.” (Jes 6,9) und das Bild des heutigen Evangeliums lebendig: Das Wort Gottes wird über die Leute gekippt, blüht in der Massenhysterie kurz auf und geht völlig unter, wenn es sich in der Hitze des Lebens bewähren muss.
Ob es Bild-Worte Jesu sind oder der Evangelist sie ihm in den Mund gelegt hat, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Sowohl der eine wie der andere wird auch schon damals zu seiner Zeit die Erfahrung gemacht haben: Begeisterung ist schnell ausgelöst - aber wenn sie sich bewähren muss, wird es oftmals recht schwierig. Allein von Zeugen des Glaubens in Bann gezogen werden reicht nicht - die Botschaft Jesu muss auch durch Dick und Dünn des Lebens tragen. Wenn der Glaube tragendes Fundament des Lebens sein will, muss er tief verinnerlicht und geprüft sein, muss er was aushalten können, muss er durch Lebenserfahrungen angereichert sein. Mit dem Glauben wächst dann das Leben und mit dem Leben hat der Glaube die Chance zu reifen. Wie die Entwicklung des Leben ist es auch mit der Entwicklung des Glaubens: Sie endet erst mit dem letzten Atemzug.
Oh happy days?
Ein Spruch sagt: "Schaut, dass euer Leben nicht nur reich an Jahren ist, sondern eure Jahre auch reich an Leben sind." - Der Alltag von uns Seelsorgerinnen und Seelsorgern liefert dazu immer wieder eindrückliche Zeugnisse, wie das gelingen kann. Manchmal begegnen mir bei Besuchen oder im Pfarrhaus Menschen, die mir eigentlich sonst kaum aufgefallen wären. Menschen, die man leicht übersieht. Sie sind nicht laut, tun keine auffälligen Dinge oder treten sonst irgendwie besonders in Erscheinung. Im Gespräch, in der persönlichen Vier-Augen-Begegnung haben sie dann aber Überraschungen parat: Wenn sie aus ihrem Leben erzählen, geben sie Zeugnis von einer unglaublichen Fülle an Erfahrungen und Weisheit. Nicht immer war da alles toll im Leben, aber das Älterwerden hat oftmals eine tiefgreifende Versöhnung auch mit all den üblen Erfahrungen mit sich gebracht. Wo ich innerlich die Empörung in mir aufsteigen spüre, erlebe ich bei meinem Gegenüber sehr oft eine Ausgeglichenheit, eine echte Versöhnung mit all dem was gewesen ist. Sie haben ihre Lebenserfahrungen im Licht der Heilsbotschaft reflektiert. Sie freuen sich über die wunderbaren Anteile des Lebens und sie deuten Schicksalsschläge als Prüfungen, an denen sie reiften durften. Ich verstumme dann oft und bin nur noch überwältigt. Ich spüre, was da für mich an Lehrstoff drin, - an Dingen, die mir für mein Leben dienen können. Wenn diese Menschen mir erzählen, kann ich spüren, was das Wort des Evangelisten Johannes meint: "Leben in Fülle haben”.
Ein Pflänzchen will gegossen werden
In solchen Situationen merke ich: Mein Glaubens- und meine Lebensentwicklung ähneln sehr meiner Orchidee auf meinem Schreibtisch im Pfarrhaus. Zur Zeit blüht sie wunderschön - sie hat aber auch schon ganz anders ausgesehen: Da hatte sie all ihre Blüten verloren und machte einen vertrockneten und traurigen Eindruck. In diesen Zeiten durfte ich die Hoffnung nicht verlieren - und die Orchidee kam wieder zur vollen Blüte. Und wie ich das Wiedererblühen meiner Orchidee vor allem den treusorgenden Händen der Putzfrau und des Hauswartes verdanke, ist es auch mit meinem Glauben. Menschen geben mir eindrückliche Zeugnisse ihres Lebens und Glaubens, an denen ich mich selbst entwickeln kann. Das aber kostet Zeit und Geduld - das geht nicht, wenn jemand seine Überzeugungen auf mich einbrüllt.
Alle sind zur Freiheit Berufene
Der Apostel Paulus schaut in seiner Verkündigung über das Individuum hinaus und hält den Reifungsprozess des Glaubens für eine Angelegenheit der ganzen Schöpfung: "Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt." Die ganze Schöpfung soll Zeugnis abgeben von ihrem Schöpfer. Wenn dieser Prozess für den Einzelnen so schwierig und langwierig ist, wie sehr erst dann für die ganze Schöpfung.
Als Christinnen und Christen sind wir aber nicht nur auf uns als Einzelne zurückgeworfen, sondern tragen auch eine Mitverantwortung für das Ganze. Diese ganze Schöpfung soll fruchtbarer Boden der Heilsbotschaft sein. Wir spüren, was da an Herausforderungen für uns drin liegt. Gehen wir los - immer wieder neu. Wir müssen diese Welt nicht retten, - wir müssen sie nur gestalten. Das geht nicht mit flotten Sprüchen und flachen Parolen, sondern nur mit einer festen Verwurzelung im Leben wie im Glauben. Dann geht der Same auf, es wächst das Zeugnis vom Heil Gottes, verwurzelt sich tief und bringt reiche Frucht für die Menschen.