In der Liebe bleiben
Im heutigen Evangelium finden sich sehr häufig die Worte: „Liebe“, „lieben“, „in der Liebe bleiben“. Dass wir einander lieben und in der Liebe verbleiben, ist Jesu großes Anliegen. Und niemand von uns, die wir uns hier versammelt haben, wird daran zweifeln, dass nicht in jedem von uns der Wunsch steckt, selbst ein liebevoller Mensch sein zu wollen und andererseits von anderen geliebt zu werden. Vom Wünschen und Wollen her liegen wir daher ganz auf der Linie Jesu.
Aber mit der Liebe ist es nicht so einfach. Sicher, manche Menschen mögen wir auf Anhieb. Da gibt es keine Probleme. Andere aber lehnen wir zuweilen schon vom Gefühl her ab oder nach Enttäuschungen mit ihnen. Zu denen, für die sich unser Herz nicht recht erwärmen will, gehören in der Regel all jene, die in ihrem Denken nicht wenigsten grundsätzlich auf unserer Linie liegen. Oder ihre Ideale, ihre Vorstellungen vom Leben, ihre angestrebten Ziele stehen im Gegensatz zu den unseren. Manchmal stört uns auch der Charakter des anderen, sein Auftreten, sein seltsames Gehabe und Benehmen. Dass uns auch negative Gefühle anderen gegenüber befallen, ist Realität.
So bleibt die Frage: “Was tun?“, damit wir der Forderung Jesu zur Liebe und unserem eigenen Wunsch, Liebende zu sein, nachkommen können.
Eine erste Reaktion, zu der wir wahrscheinlich schon alle gegriffen haben, wenn unliebsame Gefühle uns beschlichen, besteht oft darin: Wir lassen uns vom Verstand und Glauben leiten und zwingen uns zu einem Wohlverhalten. Der Vorteil dieses Strebens und dieser Haltung ist: Wir schütten kein Öl ins Feuer, sondern halten unsere Abneigung erst einmal in gesicherten Grenzen und vernünftigen Bahnen. Nur damit löst sich noch nichts. Wir verbleiben in einem inneren Zwang, in den wir uns nicht ein Leben lang einschnüren können, ohne Schaden zu erleiden. Echte Liebe, wirkliches Wohlwollen lassen sich nicht durch irgendwelchen Zwang erreichen.
Gott liebt jeden Menschen
An diesem Punkt kommt uns der Glaube zu Hilfe. Die wichtigste Botschaft, die Jesus verkündete, war der Hinweis: Gott liebt jeden Menschen, ganz gleich welchen Charakter er besitzt, welche Lebensziele er verfolgt, welche Verhaltensweisen er an den Tag legt. Dies bedeutet durchaus nicht, dass es Gott gleichgültig wäre, wie wir leben, was wir denken oder tun und wie wir uns verhalten. Das ganz und gar nicht. Aber seine Reaktion unterscheidet sich von der, zu der wir bei unserer Abneigung zu anderen oft greifen: Ablehnung rundum und grundsätzlich, böser Streit, Verunglimpfung, gehässiges Gerede, Blockade. Die Art zu lieben, wie Gott es tut, ist ihm wahrscheinlich deswegen möglich, weil er nicht vordergründig auf das Verhalten der Menschen schaut, sondern jeden Menschen voll und ganz betrachtet in den ihm gegebenen Möglichkeiten der Entwicklung, in seinem Umfeld, mit seinen Kräften und Grenzen.
Hier stellt sich uns die ernste und sehr entscheidende Frage: Möchte auch ich wirklich in Wohlwollen und Liebe mit jedem verbunden sein? Will ich für dieses Ziel Kraft, Energie und Ausdauer investieren? Denn Liebe fällt nicht vom Himmel in unsere Herzen. Sie muss von uns erzeugt und geschaffen werden. Die Kräfte, die wir dazu benötigen, - darauf dürfen wir vertrauen -, werden sich verstärken, wenn wir uns aufrichtig Mühe geben und Gott um seine Hilfe und seinen Beistand bitten.
Nun ist die Liebe nicht etwas Festes, Abgeschlossenes wie z.B. ein Auto, das wir kaufen und damit handhaben können, oder wie ein Kleidungsstück, das wir anziehen und das uns dann schick auftreten lässt. Die Liebe ist dem Werden und Wachsen unterworfen. Ihr Erwerb kann damit beginnen, dass wir den Nächsten betrachten, wie Gott es tut: nicht vordergründig, sondern umfassend.
Hintergründe
Gehen wir einmal von den Menschen aus, die uns querliegen, die wir nicht so recht leiden können. Unsere Abneigung verringert sich um vieles, wenn wir zu ergründen suchen, warum der andere sich verhält, wie er sich gibt und wir ihn erleben. Was steckt z.B. hinter dem „Angeben“ oder dem „immer Recht haben wollen“? Wie groß ist die Sehnsucht und das Verlangen in diesem Menschen, etwas gelten zu wollen, nicht abgehängt und übergangen zu werden? Welche Negativerfahrungen liegen bei ihm vor, dass er so verbissen um Beachtung kämpfen muss, dass er nicht einmal bemerkt, wie sehr er sich selbst durch sein Verhalten schadet?
Oder der Egoismus, die Rücksichtslosigkeit, fehlendes Feingefühl. Welcher Hintergrund liegt hier vor?
Ein anderes Mal treffen wir auf das Versagen von Menschen, werden Zeuge, oder uns selbst wird Unrecht zugefügt. Kenne ich als Reaktion in diesen Fällen dann nur Enttäuschung, Zorn, Ablehnung, Verwerfung? Oder traue ich dem Versagenden trotzdem zu, dass auch er sich in der Tiefe seines Herzens danach sehnt, ein liebevoller Mensch zu sein und dass er innerlich mit sich ringt, künftig Fehler nicht neu zu begehen?
Auf einander zugehen
Der Blick auf die Hintergründe wird viel an Enttäuschung, Zorn oder Wut in uns dämpfen und den Weg des „aufeinander zu“ offen halten. Wenn unsererseits dann noch hinzukommt, dass wir dem anderen trotz seines Versagens das Gute zutrauen, ihm benennen, was wir an ihm Schönes und Wertvolles entdecken, was wir an ihm schätzen und in welchen Punkten er uns oder anderen überlegen ist, dann geschieht Annäherung um viele Schritte auf beiden Seiten. Im Blick auf die Realität, dass es keinen Menschen ohne Schwächen gibt, und im Blick auf die Werte, die ebenfalls jeder mitbringt, gelingt es, viel an Abneigung zu reduzieren. Ja mehr noch: Es wird der Boden bereitet und die Brücke gebaut, um auf einander zuzugehen. Die Beurteilung des anderen wird sachlicher, rücksichtsvoller und fairer, die Ablehnung wird sich verringern, der auferlegte Zwang fürs Wohlverhalten löst sich zunehmend, erste Schritte von „miteinander gut umgehen“ und „sich näher kommen“ können beginnen. Unsere Liebe ist damit zwar noch lange nicht so, wie wir sie bei Jesus finden können, aber wir stehen nicht mehr außerhalb von ihr.
Bisher haben wir unseren Blick mehr von uns aus auf den anderen gerichtet. Um in die Liebe miteinander zu kommen und in der Liebe miteinander zu verbleiben, müssen wir uns aber auch selbst kritisch unter die Lupe nehmen. Vielleicht sind es ja gar nicht in erster Linie die andern, die einer guten Beziehung zwischen mir und ihnen im Wege stehen. Daher die Frage: Mache ich es anderen schwer, näher an mich heranzukommen? Es gibt ja vielleicht so manches, was anderen auf den Geist geht oder sie auf die Palme bringt, das ich bei mir ändern könnte, ohne mich dabei verbiegen zu müssen. Und dürfen andere mir sagen, was sie stört, ohne dass ich gleich in die Luft gehe oder tödlich beleidigt bin?
Einander ertragen
Auch der folgende Gedanke ist wichtig: Überfordere ich den anderen nicht mit meinen Erwartungen an ihn? Kann er überhaupt erbringen, was ich mir wünsche und worauf ich bestehe? Gerade weil wir Menschen nicht fehlerlos sind, ist auch das Ertragen und einander Aushalten notwendig und von großem Wert. Als Jesus die Jünger zum Kreuztragen aufforderte, hat er sicher auch an diese Situation gedacht. „Einander ertragen“ ist nicht gleichzusetzen mit Desinteresse gegenüber anderen entwickeln, um Last und Schmerz zu lindern, die sich aus dem ergeben, was nicht zu erbringen oder zu verändern ist. Einander ertragen ist das Ja zum „lieben wollen“. Wo sich nicht alles Schwierige auflösen und beseitigen lässt, kann das einander Aushalten eine um vieles größere Liebe bedeuten als harmonisches Miteinander, aber ohne großen Aufwand. Jeder, der wirklich lieben und in der Liebe bleiben will, wird danach streben, es anderen mit sich nicht schwerer zu machen als unbedingt nötig. Er wird sich immer wieder fragen: Was kann ich dafür tun, dass ich niemandem zur Last falle und unerträglich werde?
Sich um die Liebe mühen ist nicht immer einfach. Aber die Mühe lohnt sich. Denn es ist wahr, was Jesus seinen Jüngern sagte: Ich fordere euch deswegen zu einer möglichst großen Liebe auf, damit Freude in euch aufkommt und damit sie immer umfassender wird. Jesus beschreibt seine Liebe zu den Jüngern mit dem Wort Freundschaft und betont, dass er den ersten Schritt auf sie zugetan hat. Vielleicht ist dies auch für uns der Weg, in der Liebe vorwärts zu kommen, indem wir eine tiefe Freundschaft mit Christus schließen, die wir mit seiner Hilfe ausbauen zu möglichst allen Menschen, mindestens aber zu sehr, sehr vielen.