Klare Positionen
Ein Wahltag ist meist ein kurzes, spannendes Innehalten zwischen zwei Phasen der Politik, die sehr gegensätzlich sind. Im Wahlkampf gilt es, die eigenen Position in wichtigen Fragen klar zu präsentieren. Jede Partei ist bemüht, ein klares Ja oder ein klares Nein zu formulieren. Alles, was dazwischen liegt, lässt sich schwer verkaufen. Die Medien sorgen dafür, dass den Politikern zu allen Fragen, die die Menschen zur Zeit besonders bewegen, auf den Zahn gefühlt wird.
Nach der Wahl ist aber meist die hohe Kunst des Vermittelns, Verhandelns und Ausgleichens gefragt. Selten erhält eine Partei eine so große Mehrheit, dass sie allein regieren kann. Selbst dann, wenn eine allein bestimmen kann, ist sie gut beraten, jene Bereiche, für die der politische Gegner gekämpft hat, in positiver Weise zu berücksichtigen.
Vom Mut, die eigene Position zu überdenken
Jesus erzählt und heute ein Gleichnis von einem Vater und zwei Söhnen, von denen der eine ja sagt und dann nichts tut, der andere sagt nein, überlegt es sich dann aber anders. Von den Motiven der beiden wird uns nichts berichtet. Eindeutig ist, auf wen der Vergleich gemünzt ist: Auf der einen Seite werden die "Hohenpriester und Ältesten" angesprochen, also die Elite des Volkes, ihnen gegenüber stehen "die Zöllner und Dirnen", die sich durch die Predigt des Johannes zur Umkehr haben bewegen lassen. Jesus schätzt hier weniger die klaren Positionen der Führenden als vielmehr den Mut umzukehren und den Mut, die eigenen Positionen zu überdenken, wenn dies an der Zeit ist.
Wovon Jesus in diesem Gleichnis nicht spricht: Für "Zöllner und Dirnen" ist es ungemein einfacher, vor der Öffentlichkeit auf den rechten Weg zurückzukehren, als für religiöse und politische Führungspersönlichkeiten, die offen vorgetragenen Positionen zurückzunehmen.
An anderer Stelle fordert Jesus: "Euer Ja sei ein Ja, Euer Nein ein Nein" (Mt 5,37). Unser Dilemma dabei (vor allem das Dilemma der Personen, die in der Öffentlichkeit stehen): Beides hat seine Zeit, beides ist notwendig. Die Lebenskunst besteht darin, beides zu vereinen, ohne dass man den eigenen Idealen untreu wird.
Die hohe Kunst des Kommunizierens
Wer radikal hohe Ideale vertritt, unterdrückt normalerweise auch Kräfte, die ebenfalls bedeutsam und berechtigt sind. Auf Dauer geht das selten gut. Die Kräfte, die in unserem Leben wirken, sind vielschichtig; sowohl die Kräfte in uns wie auch die Kräfte um uns herum. Und im Laufe der Zeit ändern sie sich. Das Leben ist Entwicklungsprozessen unterworfen. Was für ein Kind notwendig ist, ist einem Erwachsenen vielleicht hinderlich. Was einem Jugendlichen erstrebenswert erscheint, ist für einen Älteren unter Umständen uninteressant. Was den einen bewegt und herumtreibt, lässt den anderen kalt. Lebenslanges Wachsen und Lernen ist angesagt.
Der Schlüssel zur Bewältigung dieser Herausforderungen liegt in der Fähigkeit, sich mit all dem auseinanderzusetzen, auf einander hinzuhören, auf einander Rücksicht zu nehmen und immer wieder neue Möglichkeiten zu finden, dem Leben und den angestrebten Idealen eine angemessene Gestalt zu geben.
Jeder achte auch auf das Wohl des anderen
Im Brief an die Philipper ermahnt der Apostel Paulus seine Gemeinde, jeder solle nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das der anderen bedacht sein. "Seid eines Sinnes, einander in Liebe verbunden, einmütig und einträchtig…"
Jede menschliche Gemeinschaft – das gilt für die zivile Gesellschaft genauso wie für die Kirche im kleinen und im großen – braucht immer wieder Auseinandersetzungen um ihre Ziele und Werte. In einer hierarchisch geordneten Gemeinschaft verläuft diese Diskussion anders als in einer demokratischen. Sie kann und darf aber auf Dauer weder da noch dort unterdrückt oder verhindert werden.
Auch kirchliche Führungspersonen stehen unter dem Anspruch der Bekehrung, auch wenn sie nicht abgewählt werden können. Hinhören auf die Stimme Gottes und sich von ihm bewegen lassen müssen sich alle, auch die, die sich weder zu den "Hohenpriestern und Ältesten", noch zu den "Zöllnern und Dirnen" zählen.
Jede menschliche Gemeinschaft braucht aber auch das Miteinander und das Achten auf das Wohl des jeweils anderen. Das setzt eine gewisse Beweglichkeit voraus.
Ich wünsche mir, dass sich diese Mahnung des Apostels sowohl die kirchlichen wie auch die politischen Führungskräfte zu Herzen nehmen. Sie gilt aber auch für alle, die heute die Wahl haben; für die Wahlgewinner, die Verlierer und Nichtwähler sowie für alle, die nicht wählen können, weil die kirchlichen Strukturen in weiten Bereichen keine Wahl vorsehen.