Ein sonderbares Verhalten Jesu
Frage:
Das Evangelium berichtet davon, dass Lazarus ein sehr guter Freund von Jesus ist. Gute Freunde helfen doch eigentlich einander und lassen sich nicht allein, wenn es einem von ihnen schlecht geht. Warum wartet Jesus so lange, bis er zur Familie von Lazarus geht, obwohl er weiß, dass Lazarus krank ist? Ist das Desinteresse? Eine menschliche Fehleinschätzung der Situation oder Ausdruck seines Gottvertrauens? "Gott wird es schon gut machen."
Ich muss sagen, dass ich sehr dankbar für diese Fragen bin. Denn sie kommen von einer ganz anderen Seite und werfen dabei Fragen auf, die wir „Profis“ uns gar nicht mehr stellen. Denn als Profi würde ich jetzt als erstes sagen: Christus sagt es doch selbst: „Diese Krankheit dient der Verherrlichung Gottes!“ Aber es stimmt, was Ihr sagt: Ist das eigentlich fair? Dem Lazarus gegenüber und auch seinen Angehörigen. An welcher Krankheit ist Lazarus gestorben? Welche Ängste hatte er auszustehen? Hatte er einen leichten oder einen schweren Tod? Welches Leid haben die Angehörigen durchgemacht? Hoffen und Bangen in der Pflege. Das Sterben mitzuerleben. Den Schmerz der Trauer um einen lieben Toten. Und dann der lapidare Satz: „Das alles dient der Verherrlichung Gottes!“ Ich kann verstehen, dass Euch das stutzig macht. Und musste es gleich der Tod sein? Hätte Jesus nicht auch eher kommen können, als Lazarus noch lebte? Hätte das Heilen einer Krankheit nicht auch zur Verherrlichung Gottes beitragen können?
Ihr wisst aus dem Religionsunterricht oder auch aus manchen Predigten, dass die Evangelien keine wortwörtlichen Protokolle sind. Es gab viele Erzählungen über Jesus - einige lagen schriftlich vor, andere wurden mündlich weitergegeben. Jeder Evangelist hat dieses ihm vorliegenden Material - wenn ich es mal so sagen darf - in einer bestimmten Art und Weise kombiniert, um damit ganz bestimmte Facetten der Botschaft Jesu zur Geltung zu bringen.
Der Tod – eine Folge der Ursünde des Menschen
Um einen Zugang zum Evangelium zu finden, möchte ich mit Euch ganz zum Anfang der Bibel zurückkehren. Adam und Eva haben durch ihren Ungehorsam Gott gegenüber seine Freundschaft verloren. Sie verlieren das Anrecht im Paradies leben zu dürfen, müssen fortan im Schweiß ihres Angesichts ihr tägliches Brot essen und sind der Macht des Todes verfallen. Die Bibel erklärt den Tod also als Folge des Ungehorsams der ersten Menschen.
Und genau darum geht es im ersten Teil dieses Evangeliums. Marta und Jesus sprechen darüber, ob Lazarus leben wird. Und darüber, ob Jesus derjenige ist, die Folgen der Ursünde der Menschen aufheben kann. „Ich bin der Auferstehung und das Leben! - Glaubst Du das?“ So fragt Jesus. Und macht deutlich, dass durch den Gehorsam des Sohnes Gottes die Folgen dieses Handelns wieder aufgehoben werden kann. Dass er also der erwartete Messias ist.
Johannes bereitet mit dieser Erzählung von der Auferweckung des Lazarus den Einzug Jesu in Jerusalem vor. Unmittelbar nach dieser Episode berichtet Johannes, dass die Hohenpriester und Schriftgelehrten den Beschluss fassen, Jesus umzubringen. Und dann beginnt mit dem Einzug Jesu in Jerusalem schon die Passionserzählung, die in den Tod und die Auferstehung Jesu münden wird.
Der Tod hat nicht das letzte Wort
Weil der Tod eben das Ursymbol des Ungehorsams des Menschen ist, bleibt kein Mensch davon verschont: Lazarus nicht, selbst Jesus nicht und auch keiner von uns. Aber Johannes platziert diese Erzählung diese Wundererzählung direkt vor den Einzug Jesu in Jerusalem, weil er damit seinen Zuhörern damals deutlich machen möchte: In der Gegenwart Christi kann der Tod das Leben nicht mehr verhindern. Dieser Jesus, der auf einem Esel in Jerusalem einziehen wird, ist derjenige, der dort am Kreuz das Tor zum Paradies wieder aufstößt. Der Tod hat nicht das letzte Wort.
Er zeigt auch, welche gewaltigen Widerstände Jesus dabei zu überwinden hat. Denn ummittelbar nach der Auferweckung des Lazarus beschließen ja die Hohenpriester und Schriftgelehrten, Jesus umzubringen. Sie wollen sich - wie Adam und Eva - wieder dem Willen Gottes widersetzen. Aber diesmal wird das Leben den Sieg erringen und nicht der Tod.
Damit sind wir bei der letzten Frage: Ist das Zuspätkommen Jesu eine menschliche Fehleinschätzung oder ein Ausdruck seines Gottvertrauens? In seinem Abschiedsgebet vor der Verhaftung wird Christus beten: „Du hast deinem Sohn Macht über die Menschen gegeben, damit er allen, die du ihm gegeben hast, ewiges Leben schenkt!“ Christus lebte ganz aus dem Willen seines Vaters. Bis in die Stunde seines Todes hinein. Und er lebte in dem Vertrauen darauf, dass der Vater ihn liebt und ihn niemals im Stich lässt.
Gott will, dass wir leben
Was lernen wir aus dieser Erzählung: Wenn ich Gottes Liebe und Fürsorge für mein Leben keinen Raum gebe, dann bin den Kräften des Todes ausgesetzt: Hass und Neid. Unfrieden und Streit. Der Macht der Sünde. Der Kultur des Todes.
Gott will das nicht. Er will, dass wir leben. Er liebt uns und lässt uns niemals im Stich.
Diese Liebe Gottes, sein unbedingte Wille zum Leben, erfahren wir dann, wenn Jesus in unserer Mitte ist. Je mehr Raum ich ihm gebe, je größer seine Gegenwart in meinem Leben ist, desto mehr gebe ich der Kultur des Lebens Raum und Platz.
Und dann kann ich auch darauf vertrauen, dass der leibliche Tod mein Leben nicht beenden wird, sondern der Durchgang und Beginn des neuen und ewigen Leben ist. Dort, wo Adam einst das Leben verspielt hat: Im Paradies.