Die Geschichte vom reichen Prasser und dem armen Lazarus ist eine Parabel, die nicht nur von der Not eines Armen und der Rücksichtslosigkeit eines Reichen erzählt. Die beiden Gestalten können auch als Bilder für persönliche Erfahrungen als Armer, als Reicher, als Geschätzter oder als Verachteter verstanden werden. Empathie und ehrliche Selbsterkenntnis führen zu einem lösenden Umgang mit dieser Spannung.
Eine gleichnishafte Lehrerzählung
Der heutige Abschnitt aus dem Lukasevangelium ist von der literarischen Form her eine Parabel, eine gleichnishafte Lehrerzählung. Am vordergründigen Beispiel des reichen Prassers und des mit seinem Namen Lazarus (übersetzt: Gott hilft) benannten Armen wird uns unsere Sehnsucht nach ausgleichender Gerechtigkeit, wenn schon nicht hier dann wenigstens im Jenseits, vor Augen geführt. Das Thema ist ein altes und kommt schon in ägyptischen Erzählungen vor. Bei Auslegungen dieser Evangeliumstelle wird meist mit Recht auf die Einstellung zu Reichtum einerseits und Bedürftigkeit der Armen andererseits verwiesen.
Zwei Seelen in unserer Brust
Ich möchte heute einen etwas anderen Weg wählen: Als Reicher oder als Armer zu leben hat ja nicht unbedingt mit materiellen Gütern zu tun. Wie viele Reiche leben todunglücklich? Von wie vielen lesen wir, dass sie freiwillig ihr Leben beendet haben und fragen uns, was hat sie, die doch alles zu haben schienen, dazu veranlasst? Die meisten von uns haben eine gesicherte Existenz, nicht gerade mit Reichtum überschüttet, aber so, dass wir unser Auskommen haben und auch noch mit anderen in einem gewissen Maß solidarisch teilen können. Zählen wir daher zum reichen Prasser oder hängt das Arm- oder Reichfühlen nicht auch von anderen Lebensumständen ab? Gibt es in unserem Leben Stunden, Tage wo wir uns wie der arme Lazarus fühlen: so sehr gekränkt, dass wir fürchten von diesen Kränkungen wie Lazarus körperlich krank zu werden; in unserer Würde von anderen gedemütigt; im Betrieb gemobbt; von Menschen, denen wir vertrauten, bis ins Innerste enttäuscht. Das sind doch Gefühle und Situationen, die wir alle kennen.
Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, dann gibt es aber auch jene anderen Situationen, in denen wir die anderen in ihrer Würde und ihrem Wert nicht beachten; in denen wir absichtlich oder unbewusst, andere an ihrer Achillesferse treffen, sie kränken, demütigen und beleidigen. Ich selbst finde mich in beiden Gestalten wieder. Die beiden Seiten können auch sehr rasch wechseln: Trifft mich jemand an meiner schwachen Stelle, bin ich nicht nur gekränkt sondern kann auch durchaus jetzt mit einer Kränkung, die den anderen trifft, darauf reagieren, zB. in dem ich mich in Schweigen hülle und ihm so meine ganze Verachtung spüren lasse. Ich kann dann so wie der reiche Prasser über den armen Lazarus hinwegschauen, dass ich ihn nicht einmal eines Wortes würdige.
Kränkungen
Wie viel Leid Kränkungen auslösen können, die nicht verarbeitet werden können, erfahren wir in unseren Tagen in dramatischer Weise. Denken Sie nur an den Attentäter im Olympia-Einkaufszentrum vor wenigen Wochen in München und alle die, die er sich zum Vorbild genommen hat. Denken Sie an die gefangenen und entführten Mädchen durch die Terrororganisation Boko Haram, an die Folter von Menschen in den syrischen Gefängnissen oder in Guatanamo, an die Übergriffe körperlicher und sexueller Gewalt in den staatlichen und kirchlichen Heimen im vergangenen Jahrhundert. Die Opfer dieser Gewalttaten ersehnen nichts mehr als ausgleichende Gerechtigkeit für ihre Peiniger so wie sie im zweiten Teil dieser Textstelle vorkommt. Oft ist ihnen eine Konfrontation mit ihren Peinigern – so diese noch leben und greifbar sind - und deren Entschuldigung für das an ihnen vollzogene Unrecht noch wichtiger als Psychotherapie oder finanzielle Entschädigung für die erlittenen Qualen.
Vertröstung auf das Jenseits?
Die Erzählung Jesu geht im Himmel weiter. Er stellt uns einen Gott vor, dem das Unrecht, das wir einander antun nicht egal ist. Auf den ersten Blick sieht es wie eine Vertröstung auf das Jenseits aus – das hat die Kirche auch über viele Jahrhunderte gelehrt, um die Armen in ihrem Elend zu vertrösten und ruhig zu halten. Das entspricht aber nicht meinem Gottesbild und auch nicht dieser Schriftstelle. Sie verweist als Parabel ja vom Vordergründigen der Erzählung weg auf einen tieferen Sinn: Wir glauben an einen Gott, der alles sieht, vor dessen Angesicht niemand fliehen kann, der barmherzig und gerecht ist, der alles ins rechte Licht rückt. Im Matthäusevangelium (Mt 5,25) fordert uns Jesus auf, schon jetzt – solange wir noch auf dem Weg zum Gericht sind - also in diesem unserem Leben ohne Zögern mit unseren Gegnern Frieden zu schließen. Als Christ kann uns das Elend des Lazarus, der vor unserer eigenen Haustür liegt, nicht egal sein. Was heißt das jetzt für unser Leben konkret?
Empathie – sich in den Schmerz des anderen hineinfühlen
Wenn ich noch einmal auf die Deutung zurückgreifen darf, dass wir in unserem Leben ja selbst einmal der Kränkende und dann wieder der arme Gekränkte sind:
Gilt es Empathie für den anderen, den gerade im Jetzt dieser Situation Armen, zu entwickeln. Empathie hängt mit dem aus dem Griechischen übernommenen Wort für leiden, fühlen zusammen: Die Perspektive wechseln und sich in den anderen hineinfühlen oder wie das Sprichwort aus einem anderen Kulturkreis sagt, einmal in des anderen Schuhe zu gehen, vor dem Handeln zu überlegen, wie sich das, was ich jetzt sage oder tue, für den anderen anfühlen muss. Das wird nicht immer gelingen, weil wir ja oft gar nicht wissen, was den anderen wirklich kränkt – aber es wird wohl die eine oder andere Situation damit entschärft werden können.
Ehrliche Selbsterkenntnis
Wissen wir so genau, wo wir kränkbar sind? Auch das können wir verbessern, indem wir gerade dann, wenn wir uns gekränkt fühlen und geneigt sind, zurückzuschlagen, erst einmal ehrlich nachdenken, weshalb uns diese Bemerkung, dieses Tun des anderen so in Aufregung versetzt hat. So lernen auch wir uns selbst besser kennen. Ehrliche Selbsterkenntnis führt meist auch zu einem milderen Blick auf die Menschen um uns.
Die Enttäuschungen, die wir im Umgang mit den anderen erleben und uns tief verletzen, einmal nicht gleich als Negativerfahrung sehen sondern als Bereicherung insofern, dass wir dadurch ein besseres, d.h. ehrlicheres, wirklicheres Bild von unserem Gegenüber bekommen und auf dieser neuen Erkenntnis mit mehr Erfahrung unsere Beziehungen fortsetzen können.
Widerstandskraft aus dem Glauben
Wie bei den Bazillen und Viren, die uns tagtäglich und überall umgeben, brauchen wir auch im seelischen Bereich eine Art Widerstandskraft, wenn wir uns nicht von den Geschehnissen um uns in die Tiefe ziehen lassen wollen. Wir brauchen einen inneren Halt, etwas an dem wir uns anhalten können, jemanden, auf den wir vertrauen können. Eine solche Stütze und ein solcher Halt kann unser Glaube an Jesus sein. An den Gottmenschen, der bis zum Unvorstellbaren ungerecht gekränkt, beleidigt und gedemütigt wurde, aber dann am dritten Tag auferstanden ist, und so allen, die ihm nachgehen und an ihn glauben, Liebe und Hoffnung schenkt.
Josef Kampleitner (1998)