Die biblische Verkündigung dieses festlichen Abendgottesdienstes ist reichhaltig und umfangreich. Sie kreist um das eine Thema, das uns zu diesem Gottesdienst zusammengeführt hat: In der Nacht vor seinem Tod hat Jesus mit den Menschen aus seiner Nachfolgegemeinschaft, die mit ihm nach Jerusalem gekommen waren, ein Mahl gefeiert. Es ist nicht das erste und einzige Mahl, bei dem Jesus Menschen, die ihm nahestehen um sich versammelt hat. Mehrfach erzählen die Evangelien von der intensiven Mahlpraxis Jesu, mit der er soziale Barrieren und gesellschaftliche Tabus seiner Zeit brach: Mit Zöllnern, Sünderinnen und Sündern halte er Tischgemeinschaft, so lautet der immer wiederkehrende Vorwurf seiner Gegner. Es ist nicht bekannt, dass Jesus seine Praxis wegen dieses Einspruchs geändert hätte. Denn es geht ihm um die Gemeinschaft mit eben diesen Menschen, besonders mit jenen, die sie brauchen, und die Tischgemeinschaft ist dafür ein besonders aussagekräftiges und sinnfälliges Zeichen.
Ein besonderes Mahl
Zum letzten Mal also ein Mahl. Paulus erinnert die Kirche von Korinth und uns daran, dass dieses Mahl, das Jesus mit seinen Jüngerinnen und Jüngern "in der Nacht, bevor er übergeben wurde" (1 Kor 11,23) gefeiert hat, Ursprung und Grundlage der Herrenmahlfeier, also der Eucharistie, ist. Wo immer und wie immer also diese Feier begangen wird, muss sie Maß nehmen an diesem letzten Mahl der Jesusgemeinschaft. Denn sie geschieht "zu meinem Gedächtnis" (vgl. 1 Kor 11, 24b. 25b), ist also Gedächtnisfeier. Für den jüdischen Menschen der Zeit Jesu und auch der Zeit eines Paulus bedeutet das nicht einfach Erinnerung, sondern ein aktualisierendes Bewusstmachen dessen, was da einmal ursprünglich geschehen ist.
Das letzte Mahl Jesu war nicht ein Mahl wie jedes andere. Jesus, der diese Mahlgemeinschaft leitet, deutet im Zuge dieser Gemeinschaftsfeier die Mahlgaben von Brot und Wein. Solche Deutungen sind in der Antike bei besonderen Anlässen durchaus üblich. Außergewöhnlich und einmalig ist jedoch die Verbindung von Brot und Wein mit der eigenen Person, mit dem eigenen Schicksal und mit dem Mahlvollzug der Tischgemeinschaft. Diese besondere Deutung zeichnet dieses Mahl aus. Sie ist nur möglich, weil Jesus sein eigenes (Todes-) Geschick im Blick hat und dieses mit dem Mahlvollzug der Tischgemeinschaft verbindet. Ein solches Vorgehen wird erst akzeptabel und erhält eine weiterführende Sinnstiftung nur dann, wenn Jesus dabei auch eine Perspektive über seinen Tod hinaus aufrechterhält.
Blick voraus auf den Tod Jesu
Das eucharistische Mahl, das wir heute abends gemeinsam feiern, legt es also schon (zwingend) nahe, auf den Karfreitag, also auf den Tod Jesu vorauszublicken. In der morgigen liturgischen Feier wird uns als Deutung des Todes Jesu die Passionserzählung aus dem Johannes Evangelium vorgetragen. Der Evangelist blickt auf das Schicksal Jesu vor dem Hintergrund der jüdischen Gotteserfahrung zurück und stellt dabei einen kühnen Zusammenhang her. Angesichts der Feststellung des Todes Jesu durch die römischen Soldaten wird ausdrücklich festgehalten, dass die Beine Jesu nicht zerschlagen werden, weil dieser bereits gestorben war. Was der vierte Evangelist erzählt, wird mit einem Zitat aus der Jüdischen Bibel verknüpft, das uns zurück ins Buch Exodus führt: "Ihr sollt an ihm kein Bein zerbrechen" (Joh 19,36 = Ex 12,46, vgl. Num 9,12).
Das Paschalamm
Mit einem Schlag stehen wir im Zentrum einer biblischen Erzählung, die zu den Gründungsgeschichten des jüdischen Volkes gehört. Was morgen nur mit einem Satz angesprochen wird, ist heute Inhalt der ersten Lesung gewesen: Die biblische Verkündigung führt uns an den Abend vor dem Auszug der Mosesippe aus Ägypten und überliefert die Vorschrift für die Feier eines besonderen Mahles. Die Gedächtnisfeier daran gehört bis zum heutigen Tag zu den wichtigsten Festen des Judentums, und auch hier gilt: Dieses Paschamahl ist nicht einfach Erinnerung, sondern Neuvollzug dieser Mahlfeier, mit Bitterkräutern, Schuhen an den Füßen, und dem Verzehr eines makellosen Lammes, an dem kein Bein zerbrochen ist und das für dieses Mahl geschlachtet wurde (vgl. Ex 12,1-50). - Das ist ein wichtiger, vielleicht ein entscheidender Punkt: Das Lamm für das Paschamahl wurde geschlachtet. Es wurde zu Tode gebracht, damit es von der Tischgemeinschaft gegessen wird. Mit dem Blut des getöteten Tieres werden die Türpfosten bestrichen. Dies wird als ein abwehrender Ritus beschrieben, der vor der Vernichtung schützen soll, die für jene Nacht von Gott gegenüber Ägypten angekündigt ist.
Das Lamm wird nicht geopfert, es ist kein Opfertier und es stirbt keinen Opfertod. Auch das Blut des Tieres ist kein geopfertes Blut, sondern es dient, um es markant und zugleich gebräuchlich zu sagen, als ein "Zeichen des Heils".
Pascha - Schicksal Jesu - Eucharistie
Um zu verstehen, welchen Deutungsrahmen die biblischen Verfasser hier entwickeln, müssen wir die gedanklichen Fäden miteinander verbinden: Es ist kaum zu übersehen, dass der Verfasser des Johannesevangeliums in seiner Deutung des Todes Jesu auf die Erzählung vom ersten Paschamahl am Abend vor dem Auszug aus Ägypten zurückgreift. Er sieht darin grundlegende Parallelen des rettenden Eingreifens unseres Gottes. Denn so wie die Mosesippe durch das machtvolle Handeln dieses Gottes aus der Sklaverei Ägyptens befreit wurde, so hat der gleiche Gott die Menschen durch Jesus Christus, durch sein Leben und Wirken, durch seinen Tod und seine Auferstehung aus der Sklaverei der Sünde und des Bösen befreit. Das ursprüngliche Paschamahl setzt dabei einen ersten heilsvermittelnden Akzent. Das letzte Mahl Jesu schließt an diese Tradition an und deutet angesichts des bevorstehenden Todes Jesu seine gesamte Existenz als endgültige Gemeinschaftsstiftung zwischen Gott und Mensch.
Wohl kein anderer Vorgang kann dies so intensiv verdeutlichen wie die Feier der Gemeinschaft beim Mahl, insbesondere dann, wenn es mit der von Jesus vorgenommenen einzigartigen Selbstdeutung ausgestattet ist. Gerade in dieser Deutung des Mahles und der Mahlgaben "für euch" kommt nochmals die uneingeschränkte Ausrichtung des gesamten Schicksals Jesu auf die Menschen zum Ausdruck. Gerade das aber ist nach der Überzeugung des letzten Konzils das entscheidend Heilstiftende (vgl. Dokument über die göttliche Offenbarung, Art. 4).
Die Rede vom Opfer
Es ist Ihnen sicher aufgefallen: Von "Opfer" war bisher nicht die Rede. Dass Jesus selbst die nächtliche Gemeinschaft vor seinem Tod als Mahlgemeinschaft verstanden hat, ist unbestreitbar: Warum sonst wären die Deuteworte über Brot und Wein mit der Aufforderung zum Essen bzw. zum Trinken verbunden - auch wenn dies in den verschiedenen Überlieferungen über das letzte Mahl unterschiedlich deutlich zum Ausdruck kommt. Es ist bedrückend, dass sich das daraus ergebende Verständnis der Eucharistiefeier als Mahl nicht wirklich durchsetzen kann. Zwar hat das letzte Konzil eine neue Betonung auf diese Sichtweise gelegt (vgl. z. B. Dokument über die Liturgie, Art. 47-48), das kirchliche Lehramt der letzten Jahrzehnte hat dem jedoch erneut und konsequent gegengesteuert, wie sich aus entsprechenden lehramtlichen Aussagen und auch aus den Texten der Eucharistiefeier selbst belegen lässt.
Nicht herleiten lässt sich das Verständnis der Eucharistie als Opfer allerdings aus den biblischen Grundlagen. Denn sie zeigen sehr deutlich die gedankliche Linie auf, die vom Paschamahl zum letzten Mahl Jesu und von dort zum Verständnis der Eucharistiefeier als Mahlgemeinschaft mit dem Auferstandenen führen (vgl. z. B. Lk 24,13-35) - was konsequenterweise auch Folgen für die Einordnung des Todes Jesu nach sich zieht. Denn auch dieser kann neutestamentlich nicht einfach nur als sühnendes und Gott besänftigendes Opfer verstanden werden, sondern als das ultimative Zeichen des Heils, das Gott unter den Völkern aufgerichtet hat - nicht als notwendige Vorleistung zur Versöhnung, sondern als Ausdruck der konsequenten, selbst vor dem Tod nicht zurückschreckenden Selbstgabe Jesu als verdichteter Ausdruck seiner Zuwendung zu den Menschen - so müsste zumindest die Deutung des Johannesevangeliums zusammengefasst werden.
Das Paschalamm - ein Mahl, kein Opfer
Hinter all dem steht als Ausgangspunkt, gleichsam als Ort, an dem die Weichen für das weitere Verständnis gestellt werden, die Erzählung über die Anweisung zur Feier des ersten Paschamahles.
Dabei zeigt sich, wie notwendig es ist, genau hinzuhören und die Erzählung nicht einfach aus dem Gedächtnis abzurufen, weil ja die meisten von uns sie ohnehin kennen. Denn dann kann leicht jenes verhängnisvolle Missverständnis entstehen, das uns durch lange Zeit im theologischen Zugang begleitet hat und das in einen Trugschluss mündet: Weil von einem Lamm die Rede ist, das zu Tode gebracht, also geschlachtet wurde, und weil dies in einem religiösen Zusammenhang geschieht, ist die Deutung des gesamten Vorgangs als Opfer schnell zur Hand. Dabei wird übersehen, dass der biblische Text von der Vorbereitung eines Mahles spricht.
Die Übertragung dieses Vorverständnisses auf das Christusgeschehen, insbesondere auf den letzten Abend vor dem Tod Jesu und diesen Tod selbst, ist dann nur ein kleiner Schritt, der sich überdies durch die Eigenart des Geschehens nahe zu legen scheint: Denn wenn jemand, der im Auftrag Gottes auftritt, auf diese schändliche Weise zu Tode kommt, kann diesem Vorgang scheinbar nur mit dem Vorstellungsrahmen eines Opfers als Wiedergutmachungsvorgang ein tieferer Sinn abgerungen werden.
Zugegeben: Auch dafür gibt es im Zeugnis des Neuen Testaments Spuren. Aber dabei wird verkannt, dass der Gott, den Jesus von Nazaret verkündigt, weder ein rachsüchtiger Gott noch ein Buchhaltergott ist, der alles und jedes haargenau aufgerechnet und ausgeglichen haben will. Jesus von Nazaret spricht vielmehr von einem Gott, der auf die Umkehr des Menschen wartet, ihn mit offenen Armen aufnimmt und der jeden Menschen ermutigt, sich auf Gemeinschaft mit ihm einzulassen.
Das Mahl Jesu als maßgebliches Gemeinschaftszeichen
Darum also geht es: um Gottesgemeinschaft. Das Schicksal Jesu zeigt: Gott hat nicht nur den ersten, sondern jeden möglichen Schritt getan, um seine Offenheit und Zuwendung zum Menschen zu verdeutlichen. Jesus von Nazaret hat jede Phase seiner Existenz, sogar sein Leben dafür eingesetzt, um uns diese Grundhaltung Gottes nachvollziehbar zu machen.
Genau das ist es auch, was wir in diesen Tagen feiern: Heute abends in der Neu-Feier dieses besonderen letzten Mahles Jesu; morgen im Gedenken an seinen Tod, an Ostern im Bewusstsein, dass Gott über den Tod Jesu hinaus Ja gesagt hat zu diesem Weg von Vergebung, Zuwendung und Neuanfang.
Das Mahl, Das Zeichen der Mahlfeier ist dafür eine Ausdrucksform, die schon im Erfahrungsrahmen unseres menschlichen Lebens Teilen und Gemeinschaft erkennen lässt. Feiern wir also Eucharistie, so bewegen wir uns auf jener Wellenlänge, mit der Gott uns Menschen ansprechen möchte und nach unserer Antwort sucht.
Jesus von Nazaret hat uns dazu eingeladen und ermutigt. Tun wir es also zu seinem Gedächtnis.
© em. Univ.-Prof. Dr. Walter Kirchschläger, Luzern
Norbert Riebartsch (2010)
Johann Pock (1999)
Bernhard Zahrl (1997)