Ohnmächtiges Beten
Die Evangelisten berichten in ihren Evangelien nicht nur über das Leben und Wirken Jesu. Als Seelsorger bemühen sie sich auch, auf die entsprechenden Lebenssituationen der Gläubigen zu antworten und Weisungen für das jeweilige Verhalten in den einzelnen Lebenslagen zu geben.
Lukas, von dem der Text des heutigen Evangeliums stammt, schreibt sein Evangelium in einer Zeit, da über die Christen längst eine ziemlich scharfe und sich verstärkende Verfolgung hereingebrochen ist. Die Christen sind der Willkür vieler schutzlos ausgesetzt. So wie die Witwe im beschriebenen Richter keinen Anwalt findet, der ihr zu ihrem Recht verhilft, so finden auch die Christen jener Zeit so gut wie niemanden, der für ihre Rechte eintritt und ihnen ausreichend Schutz gewährt. Vielen Gläubigen macht zu schaffen, dass Gott nicht deutlicher und für alle sichtbar auftritt und die Gegner in die Schranken weist. Nicht wenige fühlen sich in ihrem Beten ungehört und unerhört. Und so mancher kommt zu dem Schluss: Beten ist zwecklos, es hilft nicht.
In diese Situation hinein spricht Lukas zu den Gläubigen, indem er von Jesus berichtet, wie dieser die Menschen zur Beharrlichkeit im Gebet aufgefordert hat.
Das Gleichnis vom ungerechten Richter ist leicht verständlich. Die Witwe gehört zu den Ohnmächtigen und "armen Schluckern". Sie hat weder finanzielle Mittel noch entsprechende Beziehungen, die es ihr ermöglichen, irgendwelchen Druck auf den Richter auszuüben, damit er ihr Recht verschafft. Mit der Witwe kann der Richter nach Lust und Laune verfahren, ohne dass ihm dadurch Nachteile entstehen würden. Der Witwe bleibt nur das Betteln und Bitten. Wenn aber schon unter Menschen beharrliches Bitten auf Dauer nicht ohne Erfolg bleibt und sogar einen skrupellosen Typen wie den geschilderten Richter zum Einlenken bewegt, um wie viel mehr - so soll uns gesagt werden - wird Gott, der uns liebt auf unsere Bitten hören und sich ihrer annehmen. Zu diesem Denken will Lukas die Christen damals und uns heute bewegen. Wir sollen daran festhalten: Unsere Gebete sind nicht in den Wind gesprochen, auch wenn sie nicht sofort erhört werden.
Vertrauendes Beten
Theoretisch wird es uns nicht schwer fallen, Gott im Gegensatz zum skrupellosen Richter ein durchgängig wohlwollendes Verhalten zuzutrauen. Die Schwierigkeiten ergeben sich in der Praxis. Denn Beten, bei dem wir uns nicht erhört fühlen, macht mit der Zeit mürbe und müde, mutlos und verzagt. Damit dies nicht geschieht oder schon eingetretene Resignation aufgebrochen wird, verweist uns Lukas in Erinnerung an Jesus auf die Beharrlichkeit im Beten.
Die Beharrlichkeit im Beten fällt nicht gegen unseren Willen oder unversehens einfach vom Himmel in unser Herz. Sie setzt ein Stück Vertrauen in Gott voraus. Beharrliches Beten wird nur gelingen, wenn der Betende wenigstens mit einem letzten Fünkchen daran glaubt, dass Gott sich seiner und der Not der Menschen erbarmt. Und es wird nur Frucht tragen, wenn hinter den Bitten nicht die Erwartung steht, dass Gott wie ein Geldautomat reagiert: Ein Gebet zum Himmel senden und postwendend die Erfüllung des eigenen Wunsches in Empfang nehmen.
Der beharrlich Betende bespricht vielmehr seine Notlage mit Gott und bittet um eine Lösung, die aus Gottes Sicht für ihn oder Menschen gut ist. Dabei wird er sich erinnern, dass Leid Durchstehen auch seinen Wert hat oder haben kann. Der beharrlich Betende wird sich weigern, Gott eine Lösung der Probleme aus seiner eigenen Sicht aufzudrängen, sondern er wird um einen guten Ausgang im Sinne Gottes bitten, dem er eine größere Weitsicht zugesteht als sich selbst. Beharrlich Betende werden um die Kraft bitten, ein Ja zu Gottes Willen sagen zu können. Es wird sie freuen, wenn Gottes Wille und ihre Wünsche auf der gleichen Linie liegen; aber sie sind auch bereit, sich von eigenen Vorstellungen zu verabschieden.
Grenzenloses Beten
Ein Zweites zeichnet beharrliches Gebet aus: Der Betende denkt bei seinen Bitten nicht nur an sich. Neben den persönlichen Anliegen und Sorgen wird er die Nöte seiner Mitmenschen vor Gott hintragen und in sein Beten einbeziehen: z.B. die Nachbarn und Mitbewohner im Haus, die Kranken und Verunglückten, Verschuldete, Arbeitslose, Arme und auch die Reichen. Es wird ihm ein Anliegen sein, zu beten für die Glaubensvertiefung und Lebendigkeit der eigenen Gemeinde und der ganzen Kirche. In diesem Zusammenhang wird er um Kraft bitten für alle Seelsorger und Seelsorgerinnen, Glaubensverkünder, Katecheten, Lehrer und Missionare.
Beharrliches, vertrauendes Gebet kennt keine Grenzen. Es glaubt an Gottes Wirken auch durch die, die nicht getauft sind. Unabhängig von ihrem Glauben wird es in seinem Gedenken alle einschließen, die in dieser Welt Verantwortung tragen und die Möglichkeit haben, Welt in ihrer Gegenwart und Zukunft zu gestalten.
Und durch eigene Not an sie erinnert wird der beharrlich Betende immer wieder Gottes Kraft und Beistand erflehen
für Ängstliche und Entmutigte,
für Suchende und Zweifler,
für sich Verstrickte und Verirrte,
für Bekehrung und Umkehr aus Versagen,
für alle, die unter ihrer Schuld leiden und einen schweren Lebensweg vor sich haben.
Anteilnehmendes Beten
Noch ein Drittes zeichnet beharrliches Gebet aus. Es bewirkt eine wunderbare innere Haltung im Betenden und führt ihn in eine tiefe, dichte Beziehung zu den Menschen und seiner Umwelt.
Der beharrlich Betende lebt nicht einfach in den Tag hinein, sondern bringt sich, die Mitmenschen und die Anliegen der Welt vor Gott. Er ist also wach und aufmerksam für das, was um ihn her geschieht und sich vollzieht. Auf Glück und Heil der Menschen und der Welt zu achten, wird ihm zunehmend ein Anliegen. In seiner lebendigen Anteilnahme an allem Geschehen wächst eine grundlegende, tiefe innere Verbundenheit mit den Menschen in seiner Nähe und allgemein. Sein Herz öffnet sich. Wohlwollen und Sorge um Menschen gewinnen an Raum. Im Vordergrund steht die Überzeugung, dass alle Menschen, auch Versagende, im Kern gut sein möchten. So unterbleibt vorschnelle Verurteilung, da Wohlwollen und Sorge um Menschen nach Hintergründen und Ursachen fragt mit dem Ziel, Brücken für Veränderung zu bauen, anstatt anzuklagen oder bloß zu stellen.
Beten lässt wachsen
Wir können also sehen und beobachten: Beharrliches Gebet lässt uns nicht nur Bittende sein, sondern verändert uns im Charakter und Wesen, fördert das Wachstum als Mensch und Christ in uns. Ohne großes Aufsehen nimmt der beharrlich Betende teil an der Sorge Gottes um die Menschen und die Entwicklung in der Welt.
Die schwierige Situation der Christenverfolgung damals war wahrscheinlich für den Evangelisten und Seelsorger Lukas der Anlass, die Gläubigen zur Beharrlichkeit im Beten aufzurufen. Das beharrliche Gebet zu pflegen, ist aber auch vorteilhaft in Zeiten, wo es uns gut geht, da es uns hilft, in unserem Mensch Sein und als Christen zu wachsen. Uns in diese Bewegung des Wachsens zu bringen und das Vertrauen in Gott wach zu halten, ist das Grundanliegen des Lukas mit dem Text des heutigen Evangeliums.
Eins steht fest: An unserer Haltung zum Gebet können wir für uns selbst überprüfen,
wie groß das Maß unseres Vertrauens in Gott ist,
in welchem Umfang wirkliche Verbundenheit und Liebe zu den Menschen unser Herz beseelt,
und ob wir willens sind, die Anliegen, Bedürfnisse und Nöte der Menschen wahrzunehmen und mit zu tragen.
Möge uns der Mut nicht fehlen, diese Überprüfung immer wieder einmal vorzunehmen mit dem Ziel: Was uns noch fehlt, muss nicht auf ewig eine Lücke bleiben. Die Bitte um Kraft zur Veränderung im Guten erhört Gott gern und ohne Zögern.